Das grosse Versäumnis
(NZZ)
Von Beatrice Eichmann-Leutenegger
Lautlos verschwinden die Menschen: das Mädchen Sofia Cortéz mit ihren Eltern während der Sommerferien in Spanien, der Bankfachmann Santini Jahrzehnte später kurz vor dem Geburtstag seiner Frau. Ganze Wortfelder defizitärer Erfahrungen bauen sich in Gracias neuem Roman auf, denn immer wieder ist die Rede vom Versagen, Verlieren, Verspäten und ganz besonders vom Versäumen. Denn nichts erfüllt sich, was sich einst als Verheissung angekündigt hat. Und nie werden die entscheidenden Worte zum richtigen Zeitpunkt ausgesprochen. So zieht sich eine eigentümliche Melancholie, von Angst und Einsamkeit begleitet, durch den Text, der in einen fatalen Schluss mündet. Dieser aber darf nicht an der Stringenz eines psychologisch motivierten Realismus gemessen werden.
Im Brennpunkt von Giuseppe Gracias neuem Roman steht Sofia, um deren Gunst sich schon in den Jugendjahren zwei Knaben bemühen – Santini und der Ich-Erzähler. Beide wollen später Sofia heiraten und mit ihr Kinder aufziehen. Durch die Knabenträume flattert zudem die Idee eines Quartierkinos, wo nur die grossartigsten Filme gezeigt werden sollen. Geburtsstätte all dieser Phantasien ist der verwahrloste Sitz eines Industriellen, das Gadamerhaus, wohin sich die drei Kinder zurückziehen. Im Klublokal Ristretto ristretto dagegen treffen sich die Erwachsenen: jene Spanier, Italiener und Portugiesen, die seit den sechziger Jahren in der städtischen Industrie ihren Lebensunterhalt verdienen.
Aus ihren Erzählungen steigen Leidensgeschichten herauf, wie sie das Milieu der Emigranten nährt: Santinis Vater, der im Arbeiterquartier als gepflegter Herr gilt, entpuppt sich als Analphabet und braucht stets die diskrete Hilfe eines einstigen Priesters; der Erzähler scheitert am Plusquamperfekt und fliegt aus der Sekundarschule; Sofias depressive Mutter weilt während Monaten in der Nervenklinik; Schlägereien auf der Baustelle erhitzen das Klima zwischen den Svizzeri und den Fremdarbeitern; der Vater des Erzählers wird wie so viele andere Bauarbeiter und Zementmischer an Lungenkrebs sterben. Giuseppe Gracia, der sich auf den Fundus autobiografischer Erfahrungen stützen kann, zeichnet authentisch das Emigrantenmilieu, ohne larmoyant zu wirken. Sein Roman kann als Zeugnis eines Aufstiegs jener Secondi gelesen werden, die im Erwachsenenalter den vornehmen Tulpenberg erobern. Vor allem aber entwickelt er sich als eigenwillige Variante einer Dreiecksgeschichte, die sich einst und jetzt abspielt. Denn nach zwanzig Jahren taucht jene Frau wieder auf, die der verschwundenen Sofia so ähnlich sieht und Santinis Frau wird. Doch sie trägt eine irritierende Maske – «das Spiegelkabinettgesicht». Alle Gefühle brechen beim Erzähler wieder los, als ob ein Damm gebrochen wäre.
Auch wenn sich ein zwingender Erzählfluss nicht so recht einstellen will, weil ihn vielleicht die häufigen Zeiten- und Perspektivenwechsel hemmen, gelingen Giuseppe Gracia in den poetisch überhöhten Traumsequenzen Momentaufnahmen einer bittersüssen Sehnsucht. Sie zieht eine wehmütige Spur, die man nicht leichten Herzens wieder verlässt.
Giuseppe Gracia: Santinis Frau. Roman. Ammann-Verlag, Zürich 2006. 180 S., Fr. 33.40.