Im Bach im Wald

Von Giuseppe Gracia

An diesem Morgen vor der Dämmerung neben dem Bach im Wald, im Hals ein Kratzen, weiter unten ein Stechen, dachte er nicht daran, warum er das Auto hatte stehen lassen am Stadtrand und er nicht wie sonst direkt ins Dorf nach Hause gefahren, sondern hierher gekommen war, warum er die letzten Tage davon geträumt oder man ihm in der Nacht in sein Ohr geflüstert oder geträufelt hatte, er müsse das Auto am Stadtrand stehen lassen und an diesen Ort kommen, neben den Bach im Wald, ohne fragende Gedanken oder gut hergeleitete, falsche Gründe aus dem Reich der täglichen Vernunft. Denn auch nach dem Schlaf, im Büro und während des Mittagessens und während Sitzungen hatte er kaum je an die üblichen Alltagsgedanken gedacht, seine Frau im kleinen hellgelben Häuschen am Ende der Dorfsiedlung, an die Kinder oder an den Hals und die unters Tischtuch gleitenden Hände der Monica in der Stadt – sondern nur an diesen kleinen oder grossen Waldabschnitt, von dem er bis jetzt nicht gewusst hatte, ob es ihn überhaupt gab und wie tief er war und wo er endete.

Eng war es, kreuz und quer strich etwas über die Beine und Schuhe, mit denen er leicht ins Stolpern geriet im dichter werdenden Wildwuchs.

Nur ein kleines Waldstück zwischen Stadt und Weiler konnte es nicht sein, und er dachte, dass es zu lange schon kühl und feucht sei und es abwärts statt aufwärts gehe und dann lange geradeaus, und mit dem rechten Fuss rutschte er ab, spürte das kalte Bachwasser.

Er fragte sich, warum er so hetzte, dachte an das Gesicht seiner Frau, dass es schöner und abstossender und begehrenswerter geworden war, seit er sie betrog mit Monica in der Stadt, und er dachte an Monicas Hals und den Duft ihres Bauches und ihrer Beine, und dass er doch lieber das Auto anderswo versteckt hätte und er ans Auto jetzt auf keinen Fall denken wollte und auch nicht an den heissen Atem und ans Stechen weiter unten, und trotzdem kamen seine Gedanken zurück zum Auto; wie er damit aus der Stadt gefahren war, wie er Monica im Bett hellwach zurückgelassen hatte, nachdem sie lange nackt sich bewegt hatten und ertrunken waren in den einsamen Lippen, – miteinander, durcheinander -, zwischen bösartigen, rückhaltlosen Laken.

Dann, im Wald neben dem Bach, dachte er wieder an seine Frau, an ihren Geschmack im Vergleich zu Monicas Geschmack, ohne zu wissen, warum er Monicas Geschmack eigentlich lieber in seinem Mund und die milchweisse Haut der Frau lieber gemässigt, ohne Schweiss, unter den Fingerkuppen hatte; warum er bei den Fingerkuppen und der Erinnerung an das milchweisse Berühren immer auch ans Tal mit dem Häuschen am Ende der Siedlung denken musste und dass er das Gärtchen für die Kinder und die autofreie Zone gut und richtig fand und hasste und verabscheute mit dem ganzen Fleisch und Geist; jetzt und schon seit Jahren, und dann wieder nicht, am Wochenende, wenn er im Gärtchen mit den Kindern war und mit der Frau in der ganzheitlichen Ruhe der autofreien Zone.

War er, dachte er, am Wochenende nicht bei Monica und dachte er nicht an ihre verantwortungslose, hellbraune Haut, und schwitzte er nicht selber, – wie gerade im Wald neben dem Bach -, musste er sich mit dem Handrücken nicht über die Stirn streichen, dann hasste er seine Frau und ihre homöopathische Trockenheit überhaupt nicht.

Dann, dachte er, liebe ich sie. Mehrmals wiederholte er es im Unterholz, bis er den Schuh rechts verlor. Mit der nassen Socke stapfte er weiter und erreichte eine breitere Stelle, wo der Bach ruhig wurde und dunkelgrün; ringsum Bäume.

Das ist, dachte er, der Ort. Hier, dachte er, muss ich sein.

Und er sah, wie sie, auf der anderen Seite des Baches, aus dem Walddunkel auftauchte, im hellgelben Morgenmantel, und er wollte zu ihr, durch das Wasser, hörte das Pochen in der Kälte lauter werden, unter der ansteigenden Wärme des Stechens.

Und er dachte, dass er weitergehen, ganz zu ihr gelangen müsse, um sie zu umarmen und ihr zu sagen, dass alles ein Missverständnis war, dass sie ihm nicht hätte in all diesen Nächten ins Ohr flüstern müssen, um ihn herzulocken.

Du bist, dachte er, meine Frau.

Und du, sagte sie, liebst mich.

Er konnte nicht antworten, weil das Stechen sich um seinen Hals legte und zudrückte, während sie über die Uferböschung ins Wasser glitt, mit dem hellgelben Morgenmantel.

Es war möglich, dass sie die Arme nach ihm ausstreckte, als er bereits im Versinken begriffen war, mit fahlem Gesicht und glühender, verliebter Seele, und er wollte nicht warten auf ihre Vorwürfe.

Unter dem Spiegel, unterwegs hinab durch einen sowohl im Dorf als auch in der Stadt völlig unbekannten Spalt im Bachbeet, hörte er vielleicht, wie sie ihm versprach, nichts über die hellbraune Haut erfahren zu wollen, nichts von der Feindin mit den Lippen aus Rosenblättern. Nichts vom Honig geheimer Versprechen und den in die Kopfkissen gehauchten Schwüren, die sich allesamt gegen den Morgenmantel und seine ungefährlichen Sonntage gerichtet hatten, ohne dass er wusste, warum eigentlich – und wann jetzt diese Reise enden würde, in der vorläufigen Bodenlosigkeit des Wassers, wobei an der Oberfläche der Welt sicher längst die Morgensonne hereingebrochen war.

Ähnliche Beiträge

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert