Toblers Wanderstab
Von Giuseppe Gracia
Der Mediziner und angehende Doktor der Theologie honoris causa Titus Tobler, 1806 im Appenzellischen Stein geboren, setzte knapp siebzig Jahre nach seiner Geburt, nach zahlreichen Wanderungen und Forscherreisen, – über inländische wie ausländische Höhenzüge und Täler -, nach Meerfahrten ins Heilige Land zum Heiligen Grab, an dessen Echtheit er zweifelte, ohne vom Geheimnis und seinen immer neuen Fährten lassen zu können: dieser Titus Tobler, gebräunt von der Sonne in Palästina und der Luft archäologischer Expeditionen, umrahmt bis unter die Nase von einem grossen Bart – dieser Titus Tobler setzte an einem Morgen im Februar 1875, im kühlen Deutschland, seinen weit gereisten Fuss in das Münchner Atelier eines bekannten Malers.
Carl Arnold Gonzenbach hiess der Maler und war ebenfalls Schweizer, geboren unweit der Tobler’schen Gemeinde, in St. Gallen. Weshalb ihn Tobler, der immer schon lieber Leute aufgespürt als zu sich bestellt hatte, mit seiner Gegenwart beehrte – um sich für die Nachwelt der Hand des malenden und Kupfer stechenden Landsmannes anzuvertrauen.
Nun werde ich mich also, sagte Tobler, ihrer malenden und Kupfer stechenden Hand anvertrauen.
Dabei nickte Gonzenbach finster neben seiner Staffelei, neben der er immer stand und finster nickte, wenn er Besuch erwartete. Ein Schuss Beethoven, dachte er dabei, und eine Prise Karl Marx. So muss man diesen Tobler malen!
Doch behielt er diese Vision für sich, im Wissen darüber, dass Tobler ein frommer Weggenosse und Arbeiter der Wahrheit in Christus war. Den Karfreitag etwa hatte man als heimischen Feiertag Titus Tobler zu verdanken, weshalb es besser war, Marx nicht gross zu erwähnen – desgleichen Beethoven, denn spontane visionäre Vergleiche erfreuten sich allgemein bescheidener Beliebtheit. Vielleicht, weil die Portraitierten in solchen Fällen fürchteten, die eigene historische Bedeutung könne zu wenig Gerechtigkeit erfahren.
Aus diesem Grunde deutete Gonzenbach zum Tisch rechts neben der Staffelei, auf dem einige von Toblers Bücher lagen, etwa der Appenzellische Sprachschatz, der Beitrag zur medicinischen Topographie von Jerusalem oder die Lustreise ins Morgenland.
Tobler, durchaus erfreut, beantwortete während der ersten Sitzung, bei der noch nicht gemalt, sondern nur suchend skizziert wurde, weiterführende Fragen: sein Werk betreffend, die Expeditionen oder die aktuellen Verhältnisse in der Eidgenossenschaft.
In würdiger Positur einige Schritte vor der Staffelei, führte er aus, dass man als Patriot der Heimat niemals fern bleibe, so fern der Horizont anderer Unternehmungen auch werde. Früher, in den dreissiger Jahren, als in europäischen Ländern noch die Wogen der französischen Julirevolution nachzitterten, sei die heimische Verbundenheit gewiss drängender gewesen. Doch auch heute, wo das Appenzellervolk nicht nur die demokratische Form besitze, sondern auch die Gewaltentrennung, müsse man die Sache des loyalen Fortschritts verfechten. Ob als Landarzt, Nationalrat oder als Reisender. Über Berg und Tal, die Donau hinunter mit Flössen, auf Meerschiffen dritter Klasse.
Mit wenig Geld grosse Exkursionen, das ist es! schwärmte Tobler.
Und wurde ein wenig ungeduldig, da ihm schien, Gonzenbach, wiewohl weiter skizzierend, höre gar nicht recht zu.
Da hob der Palästinaforscher seine Stimme, beschwor eindrücklich seine letzte Reise durch Samaria und Galiläa herauf, mit sanddurchwehten Bildern in vorderasiatischen Hitzefarben. Beschwor die trockene, allein von Meerschaum gekrönte Suche nach Wahrheit, nach Fakten; weil ja die Menschen im Heiligen Lande ihre reiche Geschichte mit einem Kranz von Sagen und Mythen umwunden hatten – ein bis ins vierte Jahrhundert zurück reichender Kranz, mitten hinein in die Siege Konstantins. Auf diesem legendären wie wissenschaftlich ungesicherten Boden wallfahrten die Pilger seither zu Tausenden nach Palästina, erklärte Tobler. Wallfahrten und suchten die Spuren ihres Glaubens in Gräberanlagen rund um das Gebirgsland Judäa, suchten in der Höhle Chareitun, in Siedlungen jenseits der Dünen. Suchten im Gebröckel einer Ortsgeschichte, die zu ordnen fast unmöglich war – ob in Bethlehem, Jafa oder Ain Karim.
Nicht zu sprechen von den verzwickten Gassen in Jerusalem! rief Tobler. Von den Wissenslücken um Golgotha!
Gonzenbach schaute kurz auf, vielleicht zustimmend, während Tobler aus irgendeinem Grunde plötzlich an seine Heimat denken musste, genauer: an Horn am Bodensee, wo er 31 Jahre gelebt hatte. Fast ein Zuhause war dies gewesen, doch ohne Frau und Familie.
Bei diesem Gedanken, der ihn unerwartet traf, kehrte das Sodbrennen zurück, das den Kenner des vorderen Orients seit Tagen plagte. Genau wie die Erinnerung an eine Wanderung kürzlich, als ihn aus heiterem Himmel der Regen überfallen hatte. Durch einen hoch geschwollenen Bach war Tobler gewatet, in der hereinbrechenden Dämmerung, um für die nächsten Tage hohem Fieber zu verfallen. Wobei er nicht mehr sagen konnte: hatte er schon am Ufer des Baches, im Unterholz, die Frauengestalt gesehen, oder erst nachträglich im Fieber? Erkannt hatte er sie jedenfalls, sie, die ihm früher schon, – einmal in Jerusalem -, erschienen war.
Wie erschöpft plötzlich, verfiel Tobler in Schweigen.
Gonzenbach, den die unerwartete Stille wohl aus der Ruhe brachte, hörte auf zu skizzieren und wartete; doch Tobler erzählte nicht weiter und wünschte schliesslich, die Sitzung abzubrechen.
Er schlug vor, sich in zwei Tagen erneut zu treffen, dann lächelte er: Mein lieber Gonzenbach, denken Sie inzwischen doch ein wenig an Beethoven und Karl Marx. Man sagte mir, ich sähe ihnen ähnlich.
Aber bitte, freute sich der Maler, eine ausgezeichnete Idee! In ihrem Gesicht sehe ich die Blitze leidenschaftlicher Eingebung ebenso wie den Ernst der Gerechtigkeit.
Dies hörte sich für Tobler äusserst treffend an, und er stellte sich das vollendete Portrait vor, auf dem Weg in die Villa Hochwald, wo er Gast war bei einem befreundeten Münchner Mediziner, der eine reizende Gemahlin und vier tüchtige Kinder besass. Reizende Gemahlin, dachte Tobler, Kinder.
Es war, als folge ihm dieser Gedanke in den Wald hinein, welcher die Villa des Freundes umgab, durchschlängelt von einem steinigen Bach, dessen Rauschen Tobler erneut an die Heimat erinnerte. Und bevor er die Villa erreichte, erschien sie ihm für Momente, zwischen den Bäumen.
Doch später erst, im Traum, erkannte er ihr knöchellanges Kleid aus Silber und Nebel. Er wollte zu ihr, vielleicht einmal mit ihr reden, doch stand sie auf der anderen Seite des Baches, der an jener Stelle durchaus breit war. Dennoch trat Tobler entschlossen ins Wasser, während gleichzeitig, – wie er sah -, die Silber- und Nebelgestalt sich ebenfalls weg vom Ufer auf ihn zu bewegte, durch die Stromschnellen. Noch vor ihm erreichte sie die Bachmitte, mit einem Gegenstand in der rechten Hand. Es war ein schöner, sandfarbener Wanderstab, wie ihn Tobler aus der einen oder anderen antiken Darstellung von Pilgern, Philosophen, Predigern kannte; wie er ihn sich manchmal vielleicht gewünscht hatte.
Tobler sah, wie die Frauengestalt den Wanderstab zunächst über ihren Kopf hob und ihn dann wie einen Speer ins Wasser stiess, so dass er zwischen den Steinen auf dem Grund stecken blieb. Zur Hälfte ragte er heraus, umspült vom Strom, der dunkelgrün, – für Momente lautlos -, an ihm vorbeifunkelte.
Erwacht aus dem Traum, konnte Tobler an nichts anderes mehr denken und sprach bei der zweiten Sitzung auch Gonzenbach davon. Der nickte finster und schlug vor, auf dem geplanten Portrait im Hintergrund, neben dem Ehrfurcht gebietenden Barte und Kopfe Toblers, eine Bücherwand anzudeuten, wie es sich für einen Gelehrten geziemte, an welcher dann auch jener Wanderstab lehnen könne.
Dies sagte Gonzenbach aus Erfahrung, um Schlimmeres zu verhindern. Doch Tobler, eine Skizze des Stabes anfertigend, mochte die Sache zunächst bedenken, anders als andere. So kam denn der Maler in den nächsten Tagen von sich aus auf den Stab zu sprechen, doch konnte sich der Gelehrte offenbar nicht entscheiden.
In Wahrheit wartete Titus Tobler. Wartete auf die nächste Begegnung mit der Frauengestalt, damit sie ihm offenbare, was es genau mit dem Wanderstabe auf sich habe: ob er nun auf dem Bildnis sein dürfe und solle, oder ob es weniger um das Bildnis und mehr um das Symbol einer neuen Reise gehe.
Doch zur nächsten Begegnung mit der Frau kam es erst zwei Jahre nach München, im Januar 1877, da sich Tobler angewöhnt hatte, nur noch kleine heimische Wanderungen oder Spaziergänge zu unternehmen; was ihn nicht davor bewahrte, in ein neues Unwetter zu geraten, am Rande eines Laubwaldes nahe Sankt Gallen.
Und genau wie in seiner ersten Vision vernahm er das Bach- Rauschen und suchte zwischen den Eichen, suchte zwischen Buchen und Erlen. Und als er den hinabdrängenden Strom fand, mehr ein Fluss denn ein Bach, und am Ufer verharrte, erblickte er auf der anderen Seite die Silber- und Nebelfrau.
Still glitt sie ins Wasser, und er tat es ihr nach. Er kämpfte sich in die Mitte, wo die Frau wartete, wo sie den Wanderstab hochhielt, um ihn erneut ins Wasser zu stossen – diesmal jedoch, ohne dass der Stab stecken blieb. Er versank, und der erschrockene Tobler tauchte ab, um nach ihm zu greifen. Tatsächlich konnte er ihn fühlen und liess sich von ihm in die Tiefe führen.
So kam es, dass Titus Tobler in diesem Januar 1877 nach einem letzten Ausflug sein Leben vollendete und heimging.
Und so kam es, dass Gonzenbach auf dem Portrait im Hintergrund zwar die Bücher des Gelehrten angedeutet hat, jedoch nicht den Wanderstab. Auch wenn es im Nachruf eines langjährigen Freundes aus dem Münchner Kreis heisst: „Wen führt man da hinaus so stille und prunklos, nur den grünen Zweig der Friedenspalme auf dem schwarzen Gehänge? Wen trägt man hin zur letzten beflügelten Fahrt nach der lieben Heimat, wo er gebettet sein will zur ewigen Ruh’? Ein viel, ein weit Gewanderter hat den Stab niedergelegt – Dr. Titus Tobler, unterwegs zur Stätte der Väter“.