Lesbar rot
Von Giuseppe Gracia
Mit den Jahren immer wieder für eine viertel, eine halbe, eine ganze Stunde war es ihm geschehen, Mario Stoffel, Sohn der Mailänderin Tiziana Di Letto und des bekannten Schweizer Industriellen Johannes Stoffel, dass er mitten in der Nacht zum Fenster unter dem Treppenhausturmdach gegangen war, um die Stille in der Einfahrt zu beobachten, die kaum von der Nacht zu unterscheidenden Bewegungen in den Schatten zwischen Tor und Vordach.
Selbst wenn bei Tag Besuch kam und man sich nicht beim Zulieferwerk im Ausland oder in der Stadt eines Grosskunden traf, wohin der Vater Frau und Sohn oft mitnahm, dazu passende Pflicht- und Abendlektüre, stand Mario, kaum allein gelassen oder unbeachtet, vor dem Fenster, wartete auf den Sonnenuntergang und beobachtete, wie sein Gesicht sich spiegelte im Glas, in dem es sich schon gespiegelt hatte als das Gesicht des Fünf- oder Sechsjährigen, nachdem er heimlich durch den Korridor vom West- an den Ostflügel gestreift war, durch das Gartenzimmer im Süden, durch Neben- und Verbindungszimmer, möglichst ohne ein Geräusch zu machen auf dem Parkett zwischen den Teppichen. Auch draussen in der Einfahrt war es möglich, dass er plötzlich, während dem Fuss- oder Federballspiel, seinen Blick hinauf zum Treppenhausturm wandern liess mit dem Gedanken, er werde heute Nacht, wenn seine Mutter und die anderen im Haus schliefen, da oben stehen und herunterschauen, auf genau die Stelle, die er jetzt noch ausfüllte.
Einmal nur, zwischen Gymnasium und Universität, hatte er das Fenster, den Blick hinunter und von unten hinauf vergessen. Bis zum Tod der Eltern, die Mutter starb fünf Jahre vor dem Vater, als Mario die Fabrik erbte, schienen seine Beobachtungen der Stimmung in der Einfahrt nachzulassen, bis ihn das Fenster in einer Nacht im August zurückrief (rot), wenige Wochen nach dem Begräbnis des Vaters. Mit wachsender, Arme und Beine leicht machender Erwartung stand Mario da, das dunkel zurückgeworfene Gesicht vor sich, unterbrochen in der oberen Hälfte von der Bleiverglasung, wobei er an das Gesicht seiner Mutter dachte. In Mailand war sie Schauspielerin gewesen und hatte als zweite Frau, -nach einer unfruchtbaren Einheimischen -, den Industriellen Stoffel geheiratet, einen Bewunderer, um ihm einen Sohn zu schenken. Nur noch selten war sie nach Mailand gegangen und immer mehr in die grosse Hausbibliothek (Blut), um zu lesen, sich selber vorzulesen, in Figuren zu schlüpfen vor dem grossen Publikum der schweigenden Bücher. Gestorben war sie in ihrem Bett, im Zimmer gegenüber dem Zimmer des Sohnes, und Mario hatte sie wie verrückt geliebt; ihren Blick und ihre Liebe zu Tragödien und Geistergeschichten, ihr parfümiertes Briefpapier und den Geruch der Hände und ihrer Haut und alle Umarmungen am Morgen und nach dem Abendessen – und jetzt, vor dem Fenster, versuchte er sich an den mütterlichen Haut- und Haargeruch zu erinnern, aber er wurde von einem Geräusch abgelenkt, das hinter ihm erklang.
Es war, als fliesse Wasser durch die Leitung in der Wand unter der Eichentäfelung, und als schwinge in dem Geräusch die Flüsterstimme der Mutter mit, warnend, er müsse sich sofort ins Zimmer zurückziehen. Doch Mario blieb vor dem Fenster stehen und sah unten in der Einfahrt das Tor mit den schmiedeisernen Rosen sich bewegen, im veränderten Lichteinfall von der Laterne gegenüber, zugleich erkannte er die Gestalt, die auf das Vordach zu glitt, und sein Mund ging auf, ohne dass er einen Ton herausbrachte. Das Flüstern der Wasserleitung zog hinab ins Erdgeschoss und verlor sich im unterirdischen System, und er eilte den Korridor hinab. Knarren zwischen den Teppichen auf dem Parkett, langsamer, Mario (wir alle).
Kurz vor dem Gartenzimmer schaute er hinüber zur Flügeltür, hinter der die Mutter gestorben war, auf dem Bett, das der Vater noch letzten Winter hatte wegschaffen und verbrennen lassen, und Mario stellte sich vor, wie er das Bett des Vaters bald auch würde wegschaffen und verbrennen lassen.
Als er sein Zimmer betrat, wurde ihm warm, sobald er an den Wänden die weichen Lichtflächen vom Garten und der Terrasse sah, durch das Glas der Balkontür das Sandsteingeländer, denn er wusste, es war zu spät.
Es war zu sehen, zwischen Balkon und Bett, vor dem Radiator mit der Rosenmotivverkleidung, kaum zu unterscheiden vom Dunkel der Wand. Die Gestalt, einen oder zwei Schritte nach vorne tretend, zeigte zum Nachttisch, auf die Bücher, die dort lagen, und Mario erkannte das Gesicht des Vaters. Die Augen schienen verändert, etwas grösser oder leerer, und der Mund, der sich am Frühstückstisch oft lautlos bewegt hatte über dem Teller, faltig an einem Stück Brot oder Zwieback kauend – auch nun bewegte er sich und sprach von den Büchern auf dem Nachttisch. Der Sohn wollte ihm alles erklären, doch der Geist wusste, warum Mario noch immer die Bücher der Mutter las statt die väterlichen. Theater und Mystik, Unscharfes über Geist und Vorhang-Dramaturgie statt über die Welt und die Vernunft nach Immanuel Kant.
Es ist, sagte der Vater, nicht gut.
Vater, sagte Mario, und der faltige Mund schien zu warten, während der Sohn von der neuen Angst im Haus sprach, von der Angst vor Geistern.
Geister? Der Mund bewegte sich. Immer habe die Mutter so gesprochen! Dabei gebe es in der Welt aus Raum und Zeit nichts Derartiges, keine gemeinsam erfahrbaren immateriellen Phänomene ausserhalb der Einbildung, denkerisch erledigt seit Jahrhunderten.
Mario schüttelte den Kopf, doch der Vater wusste, dass er Kant nicht gelesen hatte und sich weiter ohne Scham mit den Bühnen- und Büchergestalten der Mutter beschäftigen würde.
Kant ist zu schwer für mich, gestand der Sohn, und der Vater machte ein böses Gesicht. Üben, er müsse nur üben, dann werde er begreifen und wacher, empfänglicher werden für die Angelegenheiten der Fabrik! Zu vieles liege da im Argen seit seiner Beerdigung, zu langsam die Lieferanten, der Kundendruck wachsend, Automatisierung, es brauche jetzt eine starke Hand!
Geh weg, dachte Mario, und die Augen unter der fahlen Geisterstirn wurden grösser oder leerer (wo man uns aufschlägt). Langsam, als beschäftige ihn eine Idee oder Ahnung, setzte sich der Vater auf die Bettkante und hob die Hände mit den dünnen, langen Fingern. Ist es denn wahr? Aber warum finde ich, wenn es wahr ist, deine Mutter nicht? Tiziana, sag mir, wo bist du hingestorben, warum hast du vorher diese Dinge geschrieben (lesbar). Warum hast du es vor mir versteckt?
Der Sohn, gerade hatte er sich nähern, sich vielleicht zum Vater setzen und ihn trösten wollen, spürte, wie es heiss wurde in seinem Bauch. Das Tagebuch der Mutter, wie hatte er es vergessen können? Wo hatte sie es hingetan, und wie war es möglich, dass der Vater es gefunden hatte?
Mario liess den Geist allein und rannte hinaus auf den Korridor zur Flügeltür. Er stiess sie auf und begann, die Kommode der Mutter zu durchsuchen, fand noch immer (rot) Wäschestücke, Fotos und Papiere und eine Puderdose und Stofftaschentücher, und je schneller er die Schubladen auf- und zuzog und zu Boden fallen liess, desto dichter, wahrer schien der Geruch jenes Hales, jener Haut und der Haare zu werden, von denen er träumte. Hast du, dachte er, für mich geschrieben? An einige Eintragungen, über Jahre versteckt vor dem Vater, vorgelesen, wenn sie allein waren, nur dem Kleinen, der vielleicht das Wesentliche noch nicht verstand, erinnerte er sich, Gedanken, Träume über eine Rückkehr nach Milano auf die Bühne, als Tiziana Di Letto, um zusammen mit dem Sohn ein neues Leben zu beginnen. Ja, abgesehen vom Jungen hatte die Mutter niemanden gehabt, um das heimlich Niedergeschriebene vorzulesen, Berichte und Zeugnisse, die sie vielleicht auch sich selbst in der Bibliothek (Blutbücher) vorlesen musste, um hinter ihre verborgene Notwendigkeit zu kommen.
Die Bibliothek, natürlich! Nicht hier in den Schubladen unter dem Schlafzimmerspiegel hatte sie das Tagebuch versteckt, sondern dort, wo es nicht auffallen würde unter den anderen Schriften.
Mario verliess das Schlafzimmer und eilte durch die ruhenden, blassblauen Schatten an den Wänden und auf den Teppichen im Obergeschoss, und als er die Treppe erreichte, schlug es eine Stunde nach Mitternacht. Es war die alte Pendelstehuhr im Empfangszimmer, als er an ihr vorbeikam, kniff er die Augen zu, um den Blick aufs weissgoldene Zifferblatt zu vermeiden.
In der Bibliothek kam ihm dann alles gedämpft vor, wie am Tag, an dem er sie als Kind das erste Mal betreten hatte; hoch und voll von schweigendem schwarzem Geist, der auf das Licht des Lesers wartete, auf Augen- und Verstandes- und Aufmerksamkeitslicht (Bücher sind wir alle); gebunden, dicht gedrängt das Papier, ringsum mit unzähligen Buchstaben und Schriften und Lettern auf dem Einband aus Leinen und Leder und anderen Stoffen, die Mario nicht kannte. Dennoch schien er sie jetzt alle riechen und voneinander unterscheiden zu können, denn es war seine Nase und nicht die an die Dunkelheit gewöhnten Augen, die ihn vorbeiführte an den falschen Regalen und Werken und Ecken mit Ledersesseln, immer näher heran an die richtige Ecke mit dem richtige Werk, immer näher ans Tagebuch der Mutter, das aufgeschlagen im hintersten Regal lag. Sonst war dort kein Buch zu sehen, der Vater musste mit dem Bett auch die Bücher der Mutter weggeschafft haben.
Mario nahm das Tagebuch in die Hand und erkannte (wo man uns aufschlägt) die Handschrift, die ihm die Knie weich machte. Er sah, wie die Buchstaben klein waren und ihm verrieten (rot), wieso er hier war. Weil du länger sein willst, sagten sie, in meinen Armen. Wie du schon immer, sagten sie, zum Fenster unter dem Treppenhausturmdach gegangen bist, um die Stille in der Einfahrt zu beobachten und zu warten. Ich sehe dich, wie du mich liest, auf der Suche nach mehr, als ich gehen musste und ein letztes Mal schreiben für dich, nicht, um von anderen gelesen zu werden, wie man hier (Blutbücher) immer gelesen worden ist von ihnen, die nach dem Weggehen unser Bett verbrannt haben. Und doch, es ist wahr, die Liebe existiert, und wir existieren über und unter und vor und nach dem Gelesenwerden, du hast es geahnt und deshalb gewartet fast jeden Tag über der Einfahrt; du hast den Geist hinter dir gelassen, der in uns hineinlesen und hineinlegen und uns auslesen wollte, mit dem ausgetrockneten Herz, um unsere Welten und Winterund Sommertage mit den Buchstaben auszurechnen im Kopf. Und jetzt, wo du begriffen hast, wirst du noch einmal zurückkehren an deinen Ort in der Einfahrt zwischen Tor und Vordach, wo man dich nicht lesen kann, wo du verstehen wirst, dass wir keine Blutbücher sind (wo man uns aufschlägt, lesbar rot). In der Einfahrt wirst du stehen, in der Einfahrt stehst du schon, ich sehe dich.
Schon immer habe ich dir den Wunsch geschenkt und die wachsende, Arme und Beine leicht machende Erwartung, die dich hat hinunterschauen lassen auf diese Stelle, auf der du mich findest, auf der du mich berühren und riechen kannst – und immer noch lesen willst, weil du das Geschenk nicht verstehst. Aber ich zeige dir, warum knien musst vor dem Körper, in dem wohnt, was man nicht aufschlagen kann und immer duften wird nach dem verlorenen Tag.
Das alles, denkst du, ist nicht zu verstehen, genau so, wie es unser gebieterischer Querleser und Ausleger nicht verstanden hat, weil du schliesslich auf den Knien nur den Kopf heben und den Mund öffnen kannst, um zu warten auf das schwarze und vielleicht schwache und verliebte, einsame Wasser, das durch die Leitung in der Wand fliesst und verloren geht im unterirdischen System.