Karoshi

Von Giuseppe Gracia

Gegen 15 Uhr mitteleuropäischer Zeit, 9’800 Meter über Meer, zwischen einer Konferenz in Frankfurt und einem Meeting in Kalifornien geschah es, dass Ferdinand Lonz, vollschlank, frisch rasiert und mit tadellosem Gebiss, fern jeder Selbstkontrolle einschlief.

Er sass oder hing im kühlen Leder seiner liebsten Langstreckenmaschine, zwanzig Minuten nach dem Start, als ihm unerwartet die Augenlider flatterten, und auf Brust und Schenkel legte sich ein Schatten. Lonz wurde unsäglich schwer, etwas drückte ihn in den Ledersessel und immer fester hinein und hinab in einen tiefen Schlaf, wobei er daran denken musste, dass er bei der Stewardess gerade einen Espresso bestellt und sich mit Papier und Rotstift darauf eingerichtet hatte, die Kundenzufriedenheitsanalyse zu analysieren, um in Los Angeles aufzutrumpfen.

Lonz freute sich auf Los Angeles, da wartete ein echter Traumkunde auf ihn, ein professionelles Unternehmen, das nach ihm gerufen hatte, um mit seiner integrativen Kompetenz einige Reputationskosten in den Griff zu kriegen. Es war nicht einfach gewesen, den Termin zu bekommen. Wie lange hatte er sich in Frankfurt und Zürich mit mittelgrossen Klienten herumschlagen müssen, die sich keine ganzheitliche Dialogkultur leisten konnten. Unwissend und verloren irrten diese armen Fleissarbeiter in ihren Teilmärkten herum und verlangten von Lonz, dem Architekten des guten Rufs, dem filigranen Zielgruppenkünstler, immer nur den schnellen sichtbaren Erfolg. Was war die Kunst der internen und externen Identity schon in den Augen dieser rasenden Absatzmaximierer? Eine Wundertüte. Stets hatte man von der Lonz’schen Agentur die unmöglichsten Zirkusnummern verlangt, den offensichtlichsten chirurgischen Eingriff am Gesicht der Lüge.

Nein, nein, Lonz hatte es weiss Gott verdient, sich auf Los Angeles zu freuen, ganz entspannt lag oder sass er im Ledersessel, immer wieder lächelnd im Traum. Auf einer grossen bewässerten Wiese lag er, aber es war nicht kalt, nur seine Kleider schienen etwas feucht zu werden. Nach Sommer roch es und nach Mädchenröcken, bald kam sogar die Sonneund kitzelte unter seiner weichen Duschgel-Haut. Dann verschwand die Wiese. Lonz glitt hinüber oder hinein in einen glanzlosen Raum, Umrisse einer Person wurden sichtbar. Ein Mann. Er hatte unnatürlich grosse Augen, eine hohe Stirn, nicht angenehm, nicht hässlich.

„Du schon wieder,“ sagte Lonz.

„Hallo Lonz,“ kam der Gruss, freundlich wie immer, „hast du über unsere letzte Sitzung nachgedacht?“

Lonz versuchte, sich an die Kundenzufriedenheitsanalyse zu erinnern, die jetzt gewiss irgendwo vor seinem schlafenden Körper im Flugzeug lag, ohne dass er sie in die Hand nehmen konnte.

„Der gute Ruf,“ sagte der Grossäugige, „keine Angst, die Studie ist gelungen. Aber sag mir, hast du dir Gedanken gemacht?“

Lonz winkte ab. Die vordergründige Freundlichkeit des Traumbesuchers ging ihm auf den Wecker, er hatte längst durchschaut, was sich dahinter verbarg. „Geh,“ sagte er, „ich will wieder auf der feuchten Wiese liegen und Mädchenröcke riechen.“

„Entschuldige,“ meinte der Grossäugige, „du wirst deine Nase aufgeben müssen.“

Immer kam der Kerl mit solchen Sätzen, es war nun wirklich kein Vergnügen. Lonz wünschte sich an einen anderen Ort. Von seiner Jugend, von seiner ersten Freundin hätte dieser Traum doch handeln können, wie sie hinter dem Elternhaus ins Freie rannten, das Sternenzelt über ihren Köpfen, worin sich alles drehte, bis sie auf die Wiese fielen und der Rock nach oben glitt und der junge Lonz gegen den Lärm seiner Herzschläge es wagte, in die weibliche Stille vorzudringen, und sie drehte sich und gab ihm den ersten allesbeherrschenden Kuss und verwischte die Grenzen und machte die Nacht tief und silbern. Wie hatte er das nur vergessen können? Oder, dachte Lonz, ich hätte wenigstens von meinem Auto träumen können, wie ich das erste Mal die Appenzeller Serpentinenkurven hochraste und runterschlingerte, das war ein Gefühl, oder wie ich die Agentur übernommen habe, oder mein erstes Bob-Dylan-Konzert!

„Amen,“ sagte der Andere.

„Schweig, überlasse mich meinen Erinnerungen, du hast hier nichts verloren.“

Der Grossäugige schüttelte den Kopf. „Stoffungebunde Suchtform,“ sagte er, „Arbeit, viele leiden darunter, wie unter Putzzwang, erinnerst du dich? Du hast silberne Nächte verbracht, dann bist du hingegangen und hast die Aufgabe entdeckt, die grosse kundenorientierte Vision. Arbeit macht geil und Geilheit süchtig. Das Problem ist bloss, dass die Sucht nach Arbeit nicht als neurotisch gilt. Die Arbeitssucht geniesst grosses Ansehen, sie wird sogar beklatscht auf der zeitgenössischen Leistungsbühne, weil sie das Funktionieren fördert und die postindustriellen Gezeiten garantiert, Angebot und Nachfrage, Ebbe und Flut der Finanzströme, Güterströme, Humankapitalströme. Na, was meinst du?“

Auch diese Masche war nicht neu. Allzu gerne spielte der Besucher den systemkritischen Therapeuten, der seinen unfreiwilligen Zuhörern einredete, sie seien notleidende Patienten, denen er helfen wolle, Süchtige nach Leistung, nach genauen Definitionen, Zielen und Zahlen, Süchtige mit einer angeblich tiefsitzenden Furcht vor der Muse, vor der Stille und vor der Ambivalenz. War das zu glauben?

Lonz arbeitete viel, zugegeben, oft bis zu 20 Stunden täglich (zwar nicht wie Bauarbeiter, weil taktische Diners oder Konzertbesuche mitgerechnet, aber immerhin), auch hatte er keine Familie und kannte kaum jemanden, der seiner Welt nicht irgendwie neidisch gegenüberstand.

Er war sich seines Lebens bewusst, und er wusste, welchen Preis er dafür bezahlte. Der Kompromiss war etwas für Politiker, ein Unternehmer musste sich entscheiden und dafür gerade stehen und auch die schmerzlichsten persönlichen Konsequenzen akzeptieren. Ohne Entbehrungen nichts zu wollen, aber seit wann war Erfolg schlecht? Seit wann waren Ehrgeiz, Leistungswille und Selbstverantwortung verboten? Woher nahm dieser Besucher, der gewiss nie etwas fürs Bruttosozialprodukt leistete, die ökonomiefeindliche Arroganz, über ihn zu urteilen?

Er, Lonz, sollte ein unfreiwilliger Arbeiter sein, so wie er ein unfreiwilliger Schläfer und Patient war? Er sollte nicht aus einer Lust heraus leisten, sondern wie ein Alkoholiker trinkt, nämlich eskapistisch, mit dem erbärmlichen Ziel, zwischenmenschliche Defizite auszustopfen? Die Arbeit als Flucht – lächerlich. Dieser Ferdinand Lonz war ein vollschlanker Global Player, frisch rasiert und immer bereit, den Herausforderungen des Tages mit strahlendem Gebiss zu begegnen.

Aber der Grossäugige tischte ihm hartnäckig Gruselmärchen auf, von Infarkten, Magengeschwüren, Depressionen, wohl in der Absicht, ihn patientenkonform einzuschüchtern, damit Lonz endlich glaube, dass er Teil einer Welt sei, die alles aufs Ökonomische reduziere und mit pathologischer Übersteigerung auf Touren gehalten werden müsse. In diesem System, so der Klugscheisser, würden die Menschen in einen Leistungs- und Konsumtaumel gestürzt, der als naturgegeben propagiert und sozialdarwinistisch aufgemöbelt werde.

„Dieser Taumel aber, mein Freund, ist das Gespenst, das auf jeder Karriereleiter hockt.“

Ueber solche Sätze hatte Lonz während der letzten Sitzungen gelacht, auch jetzt, im kühlen Leder sitzend oder hängend, lachte er auf und versuchte, sich an die erste Freundin oder wenigstens an die Traumwiese zu erinnern.

„Du lachst wie aus der Pistole geschossen,“ sprach der Grossäugige, „Arbeitssüchtige gehen und essen schnell, sie betrügen ihre Liebsten mit der Arbeit, und ihr Gelächter ist nie weich.“

„Ich habe keine Schuldgefühle,“ strahlte Lonz, „ich denke nur, dass Zeitvergeudung unverantwortlich ist.“

„Gewiss,“ fuhr der andere fort, „du fühlst dich dem System gegenüber verpflichtet und arbeitest heimlich. Bist du nicht ein Geschöpf des Aggressionsbetriebes geworden, der als Verwirklichungsbetrieb gilt? Effizienz und Effektivität, sind sie nicht deine Religion? Leidest du nicht an vegetativen Funktionsstörungen, Verstopfung, Versteifung, Verbitterung? Deine Innenwelten, sind sie nicht verknöchert und strategiegezerfressen? Erkennst du nicht ein deutliches Abschleifen deiner Einzigartigkeit, ein von Platinkarten umwirbeltes Entgleiten, dem du nicht entwachsen und gewachsen bist? Im freien Fall sehe ich dich durch die Wolken rasen, keine Reissleine weit und breit.“

„Gruselmärchen,“ grinste Lonz, „gleich werde ich aufwachen und in Kalifornien Siege feiern, von denen du nicht zu träumen wagst.“

„Unmöglich,“ sprach der Andere, „es ist Karoshi-Zeit.“

„Blödsinn.“

„Mein Freund, ich bin gekommen, um dich zu begleiten, für alle, denen dein Zeugnis etwas nützen wird.“

Lonz hob die Fäuste, aber dann erinnerte er sich an seine einzigartige Kommunikationskompetenz und beschloss, den Fremden mit den Künsten des Dialogs zu besiegen.

„Sag mir,“ begann er, „warum soll ich annehmen, dass du etwas anderes bist als mein Unterbewusstein, eine vorübergehende Projektion? Du kommst in meinen Träumen vor, weil ich ein schlechtes Gewissen habe, wegen meinem Erfolg. Du bist mein Gewissen, obwohl es keinen Grund gibt, sich zu schämen für den Erfolg. Das kommt von der Erziehung, kleinbürgerliche Restspuren, Ablagerungen elterlicher Moral, von der Zeit überholt und an der Börse mehrfach widerlegt. Oh ja, mein kleiner Therapeut, ich weiss um dein Geheimnis, unser Dialog ist in Wahrheit ein Selbstgespräch, eine trivialpsychologische Farce, die sich bald in Luft auflösen wird.“

Der Grössäugige sagte nichts. Es war herrlich, wie er jetzt aussah, als hätte ihm jemand seine freudianische Würde aus dem Gesicht geblasen.

„Mein kleines Gewissen,“ sagte Lonz, „du hast keine Existenzberechtigung mehr, finde dich damit ab. Gewiss, ich leide unter meiner Erziehung, aber wer nicht? Deine Tage sind gezählt.“

„Karoshi,“ wiederholte der Andere, „ich kann es leider nicht ändern.“

„Nein,“ schrie Lonz, „ich hasse die asiatische Küche, ich bevorzuge piemontesische Feinkost!“

„Wie du leidest, wie es mir leid tut…“

„Ruhe!“

„Agnus Dei.“

Nur nicht hinhören – Lonz war sicher, der Kerl war eine Fälschung, er durfte jetzt nicht lockerlassen, obwohl er spürte, dass es schwer werden würde, den Widerstand aufrecht zu erhalten.

Karoshi? Vermutlich doch kein asiatisches Gericht, ein dummes Wort jedenfalls, ein groteskes, ein perverses Wort.

„Hab keine Angst.“

„Ich habe keine Angst,“ erwiderte Lonz, und in diesem Moment wurde es heiss in seinem Magen.

„Ja,“ sagte der Andere, „jeder Arbeitssüchtige durchläuft fünf Stadien: zuerst, unmerklich, erfolgt der Übergang vom einfachen Vielarbeiten zum Suchtarbeiten. Leistete man bisher aus freien Stücken, selbstverwirklichend, lust- und also massvoll, führt jetzt die sogenannte psychovegetative Phase zum heimlichen Arbeiten, zwecks Beeindrucken der oberen Etagen unrapportiert, nächte- und morgengrauenlang. Hektik und Zeitnot werden zum dringend benötigten Rausch, und dann, während dem psychosomatischen Stadium, kommt es zum regelmässigen Besoffenarbeiten, zwanghaft-euphorisch. Schliesslich die chronische Phase mit pausenlosem Schlafdefizit. Es entstehen irreversible Körper- und Seelenschäden, gefolgt vom bekannten Burning-Out. Hier hat der Patient kein Bewusstsein mehr über die Sucht, mit der er sich systematisch zu Grunde richtet, und Karoshi ist unausweichlich geworden, wie die Japaner es nennen: Tod durch Überarbeiten. Eine kontinuierliche, beklatschte und als belebend erlebte Selbsttötung. 10’000 jährlich sollen es sein in Japan. In Europa gibt es keine verlässlichen Zahlen, da derartige Angebot- und Nachfrageleichen unsere freiwirtschaftlichen Überzeugungen in Frage stellen. Hast du noch nie davon gehört, Lonz, du perfekt frisierter Weltenmanager? Und wenn du es wüsstest, es ist nicht zu glauben, ich lüge dich an, die ganze Zeit, ich bin dein Feind und alles ist Verhandlungssache, nicht wahr?“

„Karoshi,“ murmelte Lonz. Er fühlte sich seit etwa zwei Minuten schlecht und hatte deshalb keinen passenden Konter parat.

Es kam ihm überhaupt vor, als sei es unmöglich geworden, die Worte des Grossäugigen rein strategisch oder rechthaberisch zu werten. Eine Kraft, die ihn dazu in die Lage versetzt hatte während all den Jahren als Beraterkoriphäe, schien ihn zu verlassen.

Diese Traumgespräche waren verbale Spielereien gewesen bisher, ein netter kleiner Schlagabtausch, ähnlich wie an den zahlreichen Konferenzen und Meetings, an denen Lonz teilgenommen und so manch einen Vorgesetztenzweifel über den Tisch gezogen hatte. Oft und gerne war es ihm eine Lust gewesen, seine Beharrlichkeit unter Beweis zu stellen und die steifen Konkurrenten-Nacken zu beugen, die ihm den Weg verstellten, bis er schliesslich selber Chef wurde und nur noch die Kunden bezwingen und ihnen vergaukeln musste, man habe am Ende eine tolle Win-Win-Situationen geschaffen.

Ich war gut, dachte Lonz, jeden Tag wurde ich besser und konnte zusehen, wie meine Agentur wächst.

Konnte es aber jetzt sein, dass die Stimme des Besuchers gleichwohl traurig, ja mitfühlend klang? Zwei Tonarten zu tief oder zu hoch für dieses tolle Win- Win-Spiel?

Lonz jedenfalls begann zu zittern. Etwas Quälendes stieg in ihm hoch, wie noch nie oder wie seit den Urzeiten der Jugend nicht mehr; es schüttelte ihn im geträumten Ledersitz herum, dann fühlte er schlagartig nichts mehr, nur eine sanfte und sonderbar belanglose Gewissheit, dass er in Gegenwart eines Menschen war, der im Gegenzug nichts anderes zu erwarten schien als seine eigene, eigentlichste Gegenwart. Es war verrückt. Lonz fühlte sich ausserstande, Kampfgeist zu mobilisieren. Seit etwa zwei Minuten? Er schüttelte den Traumkopf, konnte sich nicht mehr abgrenzen mit jener Eleganz, die er gewohnt war, nein, das Misstrauen und die instinktive Sistierung der Widerrede, waren sie plötzlich verschwunden aus seinem intellektuellen Repertoire?

Lonz fragte ihn: „Sag es, bist du mein Unterbewusstsein?“

„Nein,“ antwortete der Andere, „ich gehöre zu einer Therapeutengruppe, die sich mit Schallwellen-Telekinese in den unfreiwilligen Schlaf von Arbeitssüchtigen einklinkt, um zu helfen. Ihr habt keine Zeit für Behandlungen, also erfanden wir eine Maschine, um euch im Schlaf zu besuchen. Einige sprechen auf unsere Methode an, wenn sie einmal einsehen, dass sie süchtig sind, der erste, schwerste Schritt. Ach Lonz! Es tut mir leid, dass ich dir nicht helfen konnte, bevor du Karoshi erreicht hast. Ich muss bald gehen. Du bist seit etwa zwei Minuten tot, deine Hirnaktivitäten werden nicht mehr lange andauern.“

„Eine Traumtherapie,“ staunte Lonz, „und wie finanziert ihr euch? Schafft ihr es, einen Return-on-Investment zu generieren?“

„Manchmal,“ sagte der andere, „wir werden subventioniert von Kreisen, die sich auflehnen gegen das Diktat der totalen Leistung. Andere Kreise, die für den totalen Freien Markt sind, subventionieren uns ebenfalls, weil sie sich von einer schlafwandlerischen Managertherapie mehr Effizienz aufgrund effektiver Regenerationsphasen versprechen. So profitieren wir von allen Seiten und konzentrieren uns auf eine möglichst hohe Heilquote. Unser Augenmerk gilt vor allem den erfolgversprechenden Patienten. Auch ein Fall wie deiner kann uns allerdings nützlich sein. Denk nicht länger darüber nach. Ich empfehle dir, anerkenne vor dir selbst deine Sucht, und sage mir, was du fühlst. Ich werde alles rapportieren, vielleicht können wir anderen helfen, wenn sie sich in deinem Zeugnis wiedererkennen, verstehst du?“

Lonz zweifelte noch immer an den Worten des Fremden, und doch musste er aus heiterem Himmel „Ja“ sagen. Das schockierte ihn. „Du lügst nicht,“ flüsterte er, „ich bin seit etwa zwei Minuten tot?“ Alles, was er bisher geglaubt und versucht und gesucht hatte, verwandelte sich auf einmal in einen grandiosen Blödsinn, er konnte es genau spüren. Sogar der geträumte Ledersessel war nicht mehr kühl, er fühlte sich nass und billig an, irgendwo unter ihm, eine Sache, ein abstossendes Ding.

„Was passiert mit mir?“

„Alles,“ antwortete der Andere, „es hat gerade die Flatline eingesetzt, die Weichen für deine Zukunft als Leiche sind gestellt. Versuche ruhig zu bleiben und auszusprechen, was du bisher für dich behalten hast. Es wird dich erleichtern.“

Lonz wehrte sich noch immer und versuchte zurückzufinden in die alten Denkmuster, aber dann stieg eine Wut in ihm hoch, wie er sie nie für fühlbar gehalten hätte.

„Eine Schweinerei,“ rief er, „man hat mich betrogen mit der integrierten Kommunikation und der volkswirtschaftlichen Verantwortung, kann das sein, man lockt uns mit plumpen Mitteln, damit wir unsere Lebenszeit verkaufen, tief unter dem Nominalwert?“

„So ist es,“ sagte der Andere.

„Action ist Satisfaction,“ fuhr Lonz fort, „du kannst dir nicht vorstellen, wie dich das interdisziplinäre kreative Fieber packt und besinnungslos schleudert, während du aufsteigst und Leistungen bringst und mehr wirst und mehr, die Dreifaltigkeit des Lohnes, und an der Basis die Geschöpfe der Demut, die du alle überflügelt hast, Grossäugiger.“

„Ich verstehe.“

„Was sind schon Schlafmittel, um die Nächte zu überstehen, und Aufputschmittel für die Tage der ewigen Herausforderung? Was sind die schnöden Langsamkeitsanbeter gegen Ferdinand Lonz, der erstrahlt am Börsenfirmament? Verantwortung und Kompetenz, die Ellbogen, die nicht schweigen, die Blicke zurück, die nicht erfolgen, du wirst bewundert und steigst ohne den billigen Gutmenschschwindel in immer höhere Höhen, bis der Segen Gottes sichtbar wird im Berufserfolg. Und Gott ist die Bilanz und die Kraft und die Herrlichkeit des konsolidierten Gewinns.“

„Der Mensch,“ nickte der Grossäugige, „er ist zum Kapital geboren wie der Vogel zum Fliegen?“

„Unbedingt. Das eigene Himmelreich auf Erden errichten und dich baden im Sonnenmeer der Ersten Klasse, während die Demütigen ihre Klassenspiele spielen! Das unbegrenzte Wachstum, der totale Akquisitions-Flash, was wisst ihr denn alle! Ein wahrhaft fabelhafter Kommunikator und Dialogdiktator, der wie kein anderer durch die Konkurrenzgesellschaft tanzt und als Inbegriff sexueller Attraktivität gilt und sich geltend macht und gültig wird. Sicher sind ein paar Berater und Chefdirigenten impotent geworden, verstehst du, die Lust verträgt keine Strategie, und Strategie hatten sie zu sein selbst mit dem Schwanz. Aber der Wohlstand, der nie schläft, das Erreichte, das nie reicht, und weiter geht’s bis zu dir! Hilf mir jetzt, Grossäugiger, lass mich nicht hier hängen!“

Aber der Grossäugige schien gerade sehr nachdenklich zu werden. Er schaute auf die Uhr. Bisher war Lonz gar nicht aufgefallen, dass er eine Uhr trug.

„Ich muss jetzt gehen,“ sagte der Besucher, „das Traumtherapeutische Zentrum Zürich, zu dem ich gehöre, wurde kürzlich zertifiziert und umstrukturiert, nach Balanced Scorecard. Dürfte dir ein Begriff sein. Es tut mir leid, zwecks Steigerung meines seelsorgerischen Outputs muss ich den nächsten Patienten aufsuchen.“

„Nein, warte, warum hast du keine Zeitreserve eingebaut, man muss immer eine Zeitreserve einbauen!“

„Danke für den Tipp,“ sagte der Grossäugige und begann sich zu entfernen, in der Hand einen Schreibblock. „Verrate mir noch eins. Dieser Fabelhafte, der du warst im börsenkapitalisierten Fitnesscenter, war er wie ein Drogenabhängiger mit Sozialprestige? Darf man das so formulieren?“

„Es war genialgeil,“ rief Lonz, „die Frauen, die oberste Etage, all das totgeschwiegene Machtgeilheitszeug, das immer da sein wird, so geil ist es.“ Lonz lachte. „Die Geilheit muss sterben, ich habe begriffen, mein Schwanz hat zuviele Teilmärkte penetriert, ich gebe es zu, hörst du, ich gestehe, lass mich nicht tot sein!“

Erneut schien der Grossäugige zu nicken, während er langsam von dannen schwebte – und Ferdinand Lonz, der überragende Kommunikationskünstler, Napoleon des Dialogs, wollte noch einmal ganz erlöst und unverkrampft lachen, über sich selbst und die Bilanzen und die Finanzen, doch schon breitete sich die Dunkelheit aus und löschte und erstickte alle seine Farben. Die Leiche, vollschlank, frisch rasiert, mit tadellosem Gebiss, landete pünktlich in Los Angeles.

Noch am selben Tag wurde zu Hause in der Agentur eine traurige Todesanzeige angeordnet, mit Foto und Kursivtext (völlig unerwartet, in der Blüte seines Lebens), dazu eine Auflistung der Lonz’schen Verdienste rund ums ewig dankbare Consultingunternehmen.

Die Leiche, wäre sie nicht tot gewesen, hätte gestaunt über das Inserat, vor allem aber hätte sie gestaunt über die Frau, die einige Wochen später Lonz’ Nachfolge antrat.

Franziska Wirth, so ihr Name, arbeitete hocheuphorisch und leistete viele Ueberstunden. Einmal schaffte sie sogar 27 Stunden an einem einzigen Tag, wie es gerne geschieht in modernen Kommunikationsagenturen, die nach dem bewährten Balanced Scorecard organisiert sind und der gewillten Arbeitskraft auf dem Weg zum Kunden erlauben, mit der Langstreckenmaschine die Zeitzonen zu überfliegen, um den Tag künstlich zu verlängern, der doch immer wieder die Angewohnheit hat, mit gespenstischem Tempo zur Neige zu gehen.

Ähnliche Beiträge

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert