Menschenfinsternis
(Weltwoche / Philosophie)
Im neuen Buch «Die Austreibung des Anderen» beschreibt der deutsch-koreanische Philosoph Byung-Chul Han das Ende menschlicher Beziehungen. Die westliche Gesellschaft wird zur «geglätteten» Optimierungsmaschine.
Von Giuseppe Gracia
Wie schon in den Essays «Transparenzgesellschaft» (2012), «Im Schwarm» (2013) oder «Psychopolitik» (2014) analysiert Byung-Chul Han die Logik unserer Gegenwartskultur: «Ich beute mich freiwillig aus im Glauben, dass ich mich verwirkliche.» Für Han irren wir heute einsam durch den «digitalen Lärm» der Social Media. Freundschaft, Sex, Kinder, selbst Lebens krisen sind nur kurze Unterbrechungen der Produktivität und des Konsums. Eine Herrschaft der Optimierung, sekundiert von Kinder krippen, Menschenbörsen für alle Bereiche und, im nachproduktiven Alter, von chemischen Mitleidstötungen. Wissenschaft und Forschung sind Potenzmittel des Handels, Staat und Politik Human-Resources-Abteilungen.
Wer im Sog dieser Ökonomisierung nicht mithalten kann oder sich verweigert, den erwartet die Gnadenlosigkeit des positiven Denkens. Eine «Du-schaffst-es»-Industrie, die auf allen Kanälen Scheinkommunikation, Scheinerlebnis, Scheinauthentizität sendet. In immer höherem Tempo, bis alles Eigentümliche, Hemmende «geglättet» ist. Bis das «depressive Leistungssubjekt» nicht mehr fähig ist, aus sich herauszutreten. Dabei wäre gerade die Bekehrung zum Anderen «ein metaphysisches Antidepressivum».
Letztlich behauptet Byung-Chul Han den Verlust der menschlichen Person. Der Andere als Freund, als Geheimnis, als Verführung, als Hölle verschwindet. Stattdessen entfaltet sich der «Terror des Gleichen». Es gibt eine Un menge an Erlebnis, Vernetzung, Option, Neuanfang, Ländertrips, doch wirklich begegnen tun wir nichts und niemandem. Überall nur die gleichen Scheingespräche, herunter gedimmt auf den risikofreien Austausch von Gefällig keiten. Überall die gleichen Hoffnungen, Paarungs rituale, Trennungsrituale. Die gleichen Ideale und Wunschbilder: widerstandsfrei konsumierbar und integrierbar in die nächste Phase.
Nicht einmal der Tod darf abgründig sein
«Die Diversität lässt nur systemkonforme Differenzen zu. Sie stellt die konsumierbar gemachte Andersheit dar», schreibt Han. Der Sinn für das Unverstandene, Unbekannte geht verloren. Wir erleben eine «digitale Abstands losigkeit», die sämtliche «Spielformen von Nähe und Ferne» beseitigt. Die reale Zeit, der reale physische Raum für das Andere weichen der Totalvernetzung durch Social Media, die an Fremden und Anderen vorbei zum Gleichen, zum Gleichgesinnten führt, so dass der Er fahrungshorizont immer enger wird und uns in eine «endlose Ich-Schleife» verwickelt. Wir vereinzeln uns zu Unternehmern und Performern des Selbst, unfähig zur Solidarität, denn wenn alle ihr eigenes Lebens- Unternehmen sind, sind sie auch Lebens- Konkurrenten.
So gerät die menschliche Gemeinschaft ins Fegefeuer der Totalverwertung, wo alles in eine effiziente Form umgegossen wird, sogar das Unheimliche, Abgründige. Nicht einmal der Tod darf abgründig sein, sondern er bedeutet einfach das Ende von Produktion und Daseinskonsum. Deswegen die grassierende «Hysterie der Gesundheit», die nichts anderes ist als die «Hysterie der Produktion», die in einen «Leerlauf» ohne Lebendigkeit führt.
Wesentlich für das Denken von Byung-Chul Han ist Martin Heidegger, zu dem er doktoriert hat, aber auch die klassische Kapitalismuskritik eines Marx oder Horkheimer, der 1970, in einem Interview mit dem Spiegel, von einer Gesellschaft sprach, in der die «Sehnsucht nach dem Anderen» verschwunden sein wird.
Aus katholischer Sicht interessant ist der Vergleich mit «Das Ende der Neuzeit» (Würzburg 1950) des Theologen Romano Guardini. Für ihn ist die Vorstellung einer über die Natur hinausgehenden, geistbegabten, in sich würdigen, zur Freiheit berufenen Person an die Offenbarung Gottes als Person gebunden. Das Christentum als Fundament für unsere Idee des Personalen. Dass sich ein Anderer, ein freies Gegenüber zeigen und offenbaren kann – oder sich verschliessen –, diese Vorstellung ist für Guardini an die Offenbarung gebunden. Wird diese abgelehnt, verschwindet auch die Idee der Person aus dem kollektiven Gedächtnis. Symptom dieses Verschwindens ist für Guardini der Streit um «christliche Werte», der bereits eine Krise des Menschenbildes bedeutet und später ganz unverbindlich zum Streit über «Werte» werden wird, bis diese «Sentimentalitäten» schliesslich ganz verschwinden. Also auch hier, wie bei Han, das Verschwinden der Person.
Natürlich kann man Byung-Chul Han vorwerfen, dass er es sich mit der Ursachenanalyse viel zu einfach macht, indem er den «Neoliberalismus» als Grundübel aller Probleme verteufelt, blind für die gesellschaftlichen Leistungen liberaler Wirtschaftsordnungen. Dass er seine Thesen zu oft wiederholt und in einen geradezu alarmistischen Pessimismus verfällt. Dass er sich zwar postmarxistisch gibt, wenn er die Zwangsherrschaft durch Selbstausbeutung ersetzt – dass er den Menschen dann aber doch historisch-materialistisch begreift, das heisst: allein als Produkt äusserer Umstände. Wo ist bei Han noch so etwas wie eine Innerlichkeit, eine Seele, eine tiefere Sehnsucht spürbar, woraus sich ebenfalls humane Kräfte entwickeln können? Wieso soll es das nicht mehr geben?
Gespenster der Totaldigitalisierung
Trotzdem ist Han wichtig, nicht als Spezialist für Ursachen, aber für die pointierte Beschreibung von Phänomenen. Anders als einige gefeierte Intellektuelle flüchtet er sich nicht ins Angenehm-Gehobene, Wohltemperierte, Pseudo- Souveräne, was man alles konsumieren kann, ohne getroffen, ja verärgert zu werden. Auch die professorale Differenzierung mit maximaler politischer Unschärfe ist nicht seine Sache. Han möchte den Finger auf die Wunde legen. Zum Beispiel in Bezug auf die «Selfie-Sucht», die er nicht als Eigenliebe deutet, sondern als «Leerlauf des vereinsamten narzisstischen Ich». Wir sind Gespenster der Totaldigitalisierung, die einen fotografischen Beweis des eigenen Vorhandenseins suchen. «Um der quälenden Leere zu entkommen, greift man heute entweder zur Rasierklinge oder zum Smartphone.» Damit bezieht sich Han auf das Ritzen, das heute bei Jugend lichen, die sich selbst Schmerzen zufügen und zum Beispiel in den Unterarm schneiden, gar nicht so selten anzutreffen ist. Mit der Rasierklinge können sich diese Jugendlichen wieder spüren. Und mit der glatten Oberfläche des Selfies ihre Leere ausblenden. «Wenn man sie [die Oberfläche] aber umwendet, stösst man auf die mit Wunden übersäten Rückseiten, die bluten. Wunden sind Rückseiten von Selfies.»
Solche Sätze gehören fest zu Han. Dabei argumentiert er nicht nur philosophisch, sondern mit Filmen und bildender Kunst, mit der Literatur eines Kafka, Barthes, Handke oder Paul Celan. Zweifellos gehört Han zu den lauten Kritikern der Gegenwart. Aber man hat es bisher nicht geschafft, seine Gedanken systemkonform zu glätten für den angenehmen Konsum. Gelegentlich versucht man, ihn als überschätzten Antikapitalisten ins Abseits zu stellen. Doch wer ihn genau liest, spürt das Erschrecken, ja den analytischen Schock über unsere kollektive Selbstentfremdung. Man spürt die geistige Gegenwehr des Anderen, Energischen, Angstvollen. Das ist mehr, als viele heutzutage bieten.
Giuseppe Gracia ist freier Autor und Informationsbeauftragter des Bistums Chur.