Wer religiös ist, ist nicht unmodern
Im Buch «Krise der Freiheit» analysiert der Schweizer Philosoph Michael Rüegg aktuelle politische Radikalisierungen im Westen.
Von Giuseppe Gracia
Geht es um Spannungen zwischen Religion und Moderne, denken heute nicht wenige: je mehr religiöse Durchmischung und Relativierung, je weniger traditionell Gläubige, umso besser. Gegen diese Sichtweise wendet sich der Schweizer Philosoph Michael Rüegg und plädiert für ein «gelassenes Verhältnis» nach dem Vorbild der modernen Wissenschaften. Diese haben «die Idee der Freiheit im Lauf der Geschichte verdaut. Sie dienen als Werkzeug und nicht als Weltanschauung.» Für Rüegg sind Religionen dann gesund, wenn sie ihr Verhältnis zur politischen Macht klären und die Freiheit des Anderen tolerieren. Dann darf sie absolute Wahrheitsansprüche haben, jedoch keinen allgemeinen Geltungsanspruch.
Im Vergleich dazu haben die Wissenschaften einen allgemeinen Geltungsanspruch, jedoch nur als Werkzeug und nicht als Weltanschauung. «Chinesische Marxisten oder iranische Schiiten können genauso gut eine Rakete bauen oder Uran anreichern wie US-amerikanische Baptisten. Wissenschaftliches Know-how ist keine Glaubensfrage. Ein Physiker im 21. Jahrhundert kann Jude, Christ, Muslim oder Atheist sein. Auch gibt es keine christliche oder jüdische Sondervariante der Wiederbelebung.»