Selbstentfremdung

(Weltwoche / Zivilisation)

Indem der Westen seine christliche Seele verliert, zerstört er sich selber.

Von Peter Keller

Beim Lesen des Buches «Der Abschied» des St.Galler Autors Giuseppe Gracia, Pressesprecher des Bischofs von Chur, denkt man an die «Sternenfreundschaft», einen kurzen Abschnitt aus Nietzsches «Fröhlicher Wissenschaft». Darin geht es um zwei Schiffe, die stets nebeneinander segelten, dann aber trieben sie verschiedene Winde und Wetter auseinander, sie liegen in verschiedenen Häfen, treiben auf anderen Meeren, vielleicht sehen sie sich einmal wieder, vielleicht erkennen sie sich dann aber auch nicht mehr, vielleicht werden sie Feinde. Um Entfremdung und Traurigkeit geht es auch Gracia: Selbstentfremdung, Entfremdung zwischen Menschen, zwischen Religionen, des Westens von sich selbst.

Mit seinem Freund, einem Regisseur, und dem Bruder seiner verstorbenen Frau, die Selbstmord beging, indem sie sich vor einen Zug warf, besucht der Ich-Erzähler ein Kulturfest intellektueller Eliten in Berlin. Er verachtet den dortigen Karrierismus und Bildungsdünkel, an einem bestimmten Punkt meint er, seine verstorbene Frau in der Menge verschwinden zu sehen. Dann wird das Fest von islamistischen Terroristen gestürmt. Die Gäste werden in einem medialen Live-Spektakel splatterfilmartig hingerichtet, und der Erzähler schaut erstaunt und angewidert zu, ohne dass es klar ist, ob es um real Erlebtes oder um einen Traum geht. Das ist aber auch nicht wichtig. Der Selbstmord der Frau Veronika – sie ist von Leistung und Erfolg besessen und geht mit dem Freitod, so deutet der Autor es an, ihrem beruflichen Versagen aus dem Weg – wird im Buch zur Allegorie des Westens, der, so Gracia, mit der «Totalverwertung des Menschen im Kapitalismus» und zunehmender Gleichgültigkeit gegenüber dem christlichen Glauben in die Selbstzerstörung schlittert.

Giuseppe Gracia: Der Abschied. Bucher. 112 S., Fr. 19.90


Quelle: https://www.weltwoche.ch/ausgaben/2017-28/rubriken/selbstentfremdung-die-weltwoche-ausgabe-282017.html

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