Die Aufklärung fundiert auf Ideen des Christen- und Judentums

(Die Tagespost)

In der Folge der Aufklärung brachte das 20. Jahrhundert nicht das Licht von Vernunft und Fortschritt, sondern unter anderem Kommunismus und Nationalsozialismus. Kann es ohne Gott und Religion eine positive gesellschaftliche Entwicklung geben?

Von Giuseppe Gracia

Das Christentum gehört zum geistigen Fundament des Westens. Freiheit, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit sind Errungenschaften, die es nicht gäbe ohne den christlichen Glauben, der seit Jahrhunderten unsere Kultur formt. Trotzdem ist es heute schwer, öffentlich zum Christentum zu stehen. Mit einer christlichen Perspektive gilt man nicht als vernünftige Stimme aus der Mitte der Gesellschaft, sondern als rückständig oder radikal. Warum eigentlich?

Woher kommt die Überzeugung, dass es für unsere Freiheit, für Gerechtigkeit und Nächstenliebe kein Christentum mehr braucht? Woher kommt der technisch-ökonomische Fortschrittsglaube, der den christlichen Glauben ersetzt hat? Für viele ist die westliche Freiheitsgeschichte nicht dank des Christentums, sondern gegen das Christentum entstanden. Genauer gesagt: infolge einer allgemeinen Evolution der menschlichen Vernunft. Eine Evolution, die nach der Überwindung der Religion quasi von Natur aus zu einer besseren Gesellschaft geführt hat. Ein bisschen so, wie sich das Wetter naturhaften Prozessen verdankt, ohne das Zutun eines Wettergottes. Nach dieser Logik haben uns die französische und deutsche Aufklärung sozusagen gutes, aufgeklärtes Wetter gebracht. Eine Art ausgedehntes, humanistisches Hochdruckgebiet. Ausgelöst von den “Idealen der Aufklärung”: Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität. Wobei die Frage, woher diese Ideale genau kommen, in der Regel einfach mit der Aufklärung selbst beantwortet wird. Ähnlich wie beim Urknall, der auch sich selber hervorgebracht hat. Oder man denkt sich, gefragt nach den Wurzeln der Aufklärung, ungefähr Folgendes: “Der Mensch ist von Natur aus gut. Wenn man es zulässt, dass er seine Vernunft und seine Moral frei gebraucht, dann wird die Gesellschaft gut ganz ohne Religion.”

Wunschdenken: Eine gute Natur des Menschen

Der freie Mensch und seine Vernunft seien von Natur aus gut. Daran lässt sich nur dann glauben, wenn man noch jung ist. Oder wenn man sich beim Blick in den Spiegel grundsätzlich schmeichelhaft begegnet, unter Ausblendung der eigenen Abgründe. Und vor allem: wenn man das 20. Jahrhundert ausblendet, das bekanntlich auf die französische und deutsche Aufklärung folgte. Das 20. Jahrhundert hat uns nicht das Licht von Vernunft und Fortschritt gebracht, sondern Kommunismus und Nationalsozialismus. Resultat: rund 150 Millionen Tote. Nach dieser Erschütterung der Zivilisation muss man schon viel Wunschdenken aufbringen, um von der guten Natur des Menschen zu sprechen.

Historisch ist es jedenfalls eine Tatsache, dass sich die Ideale der Aufklärung nicht aus sich selbst entwickelt haben, sondern aus Judentum und Christentum. Die Menschenrechte wurzeln in der biblischen Gottesebenbildlichkeit des Menschen. Dass jeder Mensch die gleiche Würde besitzt, König wie Bettler, Bürger wie Sklave, Frau wie Mann, Erwachsener wie Baby im Mutterbauch diese Überzeugung wäre undenkbar geblieben ohne die Offenbarung des biblischen Gottes. Sie war undenkbar im alten Orient, sie war undenkbar in der griechischen wie in der römischen Antike. Sie war und ist bis heute undenkbar in der gesamten chinesischen Geschichte, so, wie in der gesamten islamischen Welt. Bis zum heutigen Tag werden die Menschenrechte nur in jenen Gebieten der Erde anerkannt und vom Staat ernst genommen, wo Judentum oder Christentum eine wesentliche Rolle gespielt haben. Nicht in China, nicht in Nordkorea, nicht in muslimisch geprägten Staaten.

„Ein Haus der Freiheit, getragen vom Fundament der Gottesebenbildlichkeit und Nächstenliebe.“

Trotzdem wagen heute nur noch wenige Politiker, Medien und andere Stimmen des öffentlichen Lebens, das Christentum in Europa hochzuhalten. Der Grund dafür könnte sein, dass sich die Menschen von einer postchristlichen Gesellschaft mehr Freiheit, Lebensfülle und Toleranz versprechen. Und zwar deshalb, weil ihnen nicht bewusst ist, dass ihre Wünsche Früchte des Baumes sind, die sie ablehnen. Genauer gesagt: Weil sie noch nicht wissen können, was das eines Tages wirklich bedeuten wird: ein Leben ohne Christus, eine Gesellschaft ohne Offenheit für die Liebe Gottes.

Man kann sich, um diesen Gedanken zu veranschaulichen, ein schönes, großes, mehrstöckiges Haus vorstellen. Ein Haus der Freiheit, getragen vom Fundament der Gottesebenbildlichkeit und Nächstenliebe. Ein Haus, das etwa 2000 Jahre alt ist. Es ist das Haus des Westens. Seit der Geburt von Jesus Christus ist das Haus immer größer geworden. Es bietet viel Raum für Kinder, Alte, Kranke und Schwache. Denn die Zehn Gebote gehören fest zur Hausordnung, auch wenn sich viele nicht daran halten. Darüber hinaus hat Jesus eine gute Zentralheizung eingebaut. Die Zentralheizung der christlichen Zivilisation.

Religiöse Begründung wird abgelehnt

Diese wärmt die einzelnen Stockwerke des Hauses und schützt gegen die harten Winter draußen. Nun aber, eines Tages, geschieht etwas. Genauer gesagt ist es bereits geschehen, vor etwa 200 Jahren. Da sind einige Bewohner (Philosophen, Politiker, Mathematiker, Ingenieure) zur Überzeugung gelangt, dass sie vieles an der Hausordnung nicht mögen, ja dass man einige der religiös begründeten Regeln als kritischer, freier Mensch ablehnen muss. Selbst die Zentralheizung wurde abgelehnt. Nicht deshalb, weil man gern eine andere Zivilisation mit anderen Temperaturen gehabt hätte, sondern weil die kritischen Bewohner die Vorstellung grundsätzlich nicht mochten, bei der Planung und beim Bau des Hauses nicht dabeigewesen zu sein.

Man hat sie nie gefragt, ob sie ein solches Haus überhaupt wollen, ob sie eine solche religiös fundierte Zentralheizung mit religiösen Werten nötig haben. Ob sie nicht lieber etwas Anderes, Moderneres wollen. Kurz: Sie waren sehr unzufrieden darüber, dass sie so wenig zu sagen hatten. Deswegen haben sie die Zentralheizung abgeschaltet und die Hausordnung auf den Kopf gestellt. Sie haben zur Rechtfertigung ihrer Handlungen kluge Bücher geschrieben und Bildungseinrichtungen aufgebaut, in denen gelehrt wird, dass sie als kritische, denkende Mitbewohner sehr klug und mutig handeln.

Es fehlt das Wissen um die Fundamente

Dies begann, wie gesagt, vor etwa 200 Jahren. Seither läuft die Zentralheizung, die sich unten im Keller befindet, nicht mehr. Die Mehrheit der Bewohner hat sich inzwischen daran gewöhnt und findet das ganz in Ordnung. Und zwar deshalb, weil sie im Vergleich zu früher keinen Temperaturunterschied wahrnehmen. Sie leben in den modernen Wohnräumen des 21. Jahrhunderts. Das heißt: in den Zimmern des 21. Stockwerks. Und dort, im 21. Stockwerk, spürt man den Ausfall der Zentralheizung nicht. Es gibt genügend Restwärme. Bekanntlich steigt Wärme nach oben. So denken die meisten Bewohner, dass ihr Zimmer keine christliche Zentralheizung braucht. Sie glauben, das Christentum nicht nötig zu haben. Und wie sollen sie auch auf die Idee kommen, dass ihnen etwas Wesentliches fehlt? Wie kann man jemandem klarmachen, dass er bald frieren wird, wenn ihm warm ist?

Dies beschreibt gut die Situation des Christseins in der gegenwärtigen Wohlstandsgesellschaft. Es ist eine Gesellschaft, die nicht realisiert, dass eine postchristliche Zeit angebrochen ist, in der das Zusammenleben spürbar kälter sein wird. Eine Zeit, in der sich die Restwärme nach und nach verflüchtigt. Dann wird sich zeigen, was das heißt: eine Gesellschaft ohne die Offenheit für das Licht Gottes. Nach der Schrift “Das Ende der Neuzeit” (Grünewald Verlag) von Romano Guardini wird es eine dunkle Zeit werden. Die Halbheiten und Lauwarmigkeiten werden verschwinden, die diffusen, unverbindlichen Wertedebatten, die heute Mode sind und die keine Kraft haben gegen die gesellschaftliche Abkühlung, gegen das seelische Lichterlöschen, das sich bereits jetzt an vielen Orten der Gesellschaft ankündigt.

Menschen werden totalverwertet

Dazu muss man nicht einmal von den jährlich über 60 Millionen Abtreibungen sprechen, die weltweit durchgeführt werden. Oder davon, dass in vielen westlichen Staaten Froschlaiche bereits mehr rechtlichen Schutz genießen als menschliche Embryonen. Es genügt, die tägliche, normal gewordene Ökonomisierung des Lebens zu beobachten, vorangetrieben durch Globalisierung und Digitalisierung. Eine Totalverwertung des Menschen im Labor, im Mutterbauch, in der Schule, durch die Arbeits- und Freizeitindustrie bis ans Sterbebett mit einem schnellen Tod durch chemische Mitleidstötung.

Der Mensch als Kosten-Nutzen-Rechner seines eigenen, beschleunigten Lebens. Darauf scheint die Postmoderne zuzusteuern. Im Namen der Befreiung von alten Traditionen und ethischen Grenzen. Aber auf der anderen Seite wird gemäß Guardini in einer solchen Lage auch die kleine Kerze des Glaubens wieder hell brennen. Der Glaube wird, je dunkler es ist, wieder Leuchtkraft bekommen. In diesem Sinn darf man hoffen, dass es möglichst viele Kerzen geben wird. Dass viele Christen sich in ihrer Lebenshaltung gerade heute, mitten im 21. Jahrhundert, zurückerinnern an einen Hymnus aus dem 15. Jahrhundert: “Herr, gib, dass deiner Liebe Glut unsere kalten Werke töte, und erwecke unser Herz und unseren Mut.”

Giuseppe Gracia (53) ist Schriftsteller und Medienbeauftragter des Bistums Chur. Sein neuer Roman “Der letzte Feind” ist erschienen im Fontis Verlag, Basel.

Kurz gefasst

Mit einer christlichen Perspektive gilt man nicht als vernünftige Stimme aus der Mitte der Gesellschaft, sondern als rückständig oder radikal. Die Aufklärung gilt als das Maß aller Dinge. Dabei haben sich die Ideale der Aufklärung nicht aus sich selbst entwickelt, sondern aus Judentum und Christentum. Es wird sich zeigen, wie lange eine Gesellschaft ohne die Offenheit für das Licht Gottes existieren kann.


Quelle: https://www.die-tagespost.de/kultur/die-aufklaerung-fundiert-auf-ideen-des-christen-und-judentums-art-213169

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