Was radikale Bewegungen bei ihrer Systemkritik vergessen

(Welt.de)

DAS UTOPIA-PRINZIP

In Europa und den USA leben einige politische Bewegungen davon, die westlichen Gesellschaften infrage zu stellen – sie seien ungerecht und zerstörerisch. Wie bitte? Es sind gerade diese wirklichkeitsfernen Ansätze, die für ein vergiftetes Klima sorgen.

Von Giuseppe Gracia

Es gibt einen sicheren Weg, eine gut funktionierende Familie zu ruinieren. Dazu muss man nur das „Utopia-Prinzip“ anwenden: Ich nehme meinen real existierenden Lebenspartner, der zwar liebevoll ist, aber nicht immer, zwar eine Hilfe, aber nicht immer, der also Fehler und Schwächen hat, und vergleiche ihn mit einem idealen Traumpartner.

Schon nimmt die Enttäuschung über den realen Partner täglich zu.

Das Gleiche mache ich mit meinen Kindern, Geschwistern, Eltern, Freunden. Verglichen mit Menschen aus der Traumfabrik mutieren alle realen Menschen zu Sonderlingen, Spießern, Halbgestörten, Totalgestörten. Verglichen mit der Utopie einer Familie ohne Abgründe sind wir alle irgendwie gestört.

Der Wunsch nach einer besseren Familie ist nichts anderes als der Wunsch nach einer besseren Menschheit.

Wenden wir dieses Prinzip auf die gesamte Gesellschaft an, führt dies zu wachsender Empörung über die westliche Kultur. Wir entdecken immer neue Schattenseiten und Ungerechtigkeiten. Imperialismus, Raubtierkapitalismus, Frauenfeindlichkeit, Homophobie, Islamophobie – die Liste lässt sich beliebig erweitern.

Jedes real existierende Gesellschaftssystem ist mangelhaft und muss gegen Utopia verlieren. „Utopia-Prinzip“ bedeutet nicht nur, dass man die Realität in Europa oder den USA grundsätzlich mit der Wunschrealität vergleicht, sondern auch, dass man die Realität anderswo auf der Welt ausblendet.

Jüdisch-christliche Werte sind keine schlechten Grundlagen

Menschenrechte, Wohlstandsniveau, Radikalismus, Klimasünden, Feminismus in islamisch dominierten Ländern? Imperiales Gehabe und Klimasünden in China, Russland?

Nein, das ist nicht das Thema. Das darf nicht das Thema sein, denn verglichen mit dem Rest der Welt würde der Westen relativ gut abschneiden. Es würde sich zeigen: Jüdisch-christliche Werte, Liberalismus und Kapitalismus sind gar keine schlechten Grundlagen, um eine Gesellschaft zu gestalten.

Doch ein solcher Realvergleich der Kulturen ist nicht erwünscht. Lieber wird der real existierende Kapitalismus mit einem idealen, theoretischen Sozialismus verglichen, statt mit dem real existierenden Sozialismus à la Nordkorea oder Venezuela.

In Europa und den USA leben einige politische Bewegungen davon, den Westen grundlegend infrage zu stellen. Bewegungen, die den medialen und kulturellen Mainstream prägen und Anklageschriften gegen alle möglichen Missstände vortragen.

Missstände, die natürlich real sein können, aber gern ins Verdammenswerte überhöht werden, durch ideologisch getriebene Narrative von Aktivisten, Politikern, Professoren oder Kulturschaffenden.

Dies gelingt umso mehr, je konsequenter das „Utopia-Prinzip“ angewendet wird. Zum Beispiel beim Thema Kapitalismus: Man prangert die Missstände einer liberalen Wirtschaftsordnung an, etwa das Fehlverhalten ausbeutender Arbeitgeber oder global agierender Konzerne.

Dabei berücksichtigt man nicht die Vorteile freier Märkte oder des Schutzes von Privateigentum, die Wirkung freien Wettbewerbs auf kreative Forschung, Erfindungen oder Massenwohlstand.

Man vergleicht dies nicht mit der Realität in sozialistischen, kommunistischen oder islamischen Ländern. Man fragt nicht, wie es um technischen oder medizinischen Fortschritt, um Massenwohlstand oder individuelle Freiheit in nicht-kapitalistischen Ländern bestellt ist.

Man versucht nicht zu sehen, welches System für das Leben der Mehrheit besser ist. Sondern man vergleicht die Realität der westlichen Gesellschaft mit einer utopischen, von Unrecht und Armut vollends gereinigten Gesellschaft.

Das Gleiche beim Thema Rassismus oder Frauenrechte: Man kämpft gegen Rassisten oder Sexisten und blendet aus, dass es im Westen, weltweit gesehen, mit Abstand am wenigsten Rassismus und Sexismus gibt.

Nur wenn man an der Utopie einer rassismusfreien, sexismusfreien Wundergesellschaft festhält, kommt man auf die Idee, besonders den Westen anklagen zu müssen.

Ähnlich bei der Diskussion ums Klima: Man vergleicht die westlichen Umweltstandards nicht mit den Standards in China, Indien oder Russland. Sondern man fragt: Wie lange dauert es, bis Europa und die USA emissionsfrei sind?

Dabei dominiert eine sogenannte „Non-Human-Perspective“. Das bedeutet: Man beurteilt die Auswirkungen der Menschheit auf die Umwelt nach dem utopischen Ideal einer Umwelt ohne Menschen und ihre Maschinen.

Man fragt nicht: Wie viele Jobs, wie viel Gesundheit und Schutz gegen Kälte und Sturm bringen geheizte Häuser in Entwicklungsländern?

Wie viele Millionen von Leben werden gerettet, wie viel Grundversorgung und Sicherheit geleistet durch die Energiewirtschaft seit Beginn der industriellen Revolution?

Wie groß ist der medizinische Fortschritt seit Beginn der Chemieindustrie? Das interessiert nicht, sondern man fragt: Wie wäre es, wenn alle diese Techniken und Umweltbelastungen nicht wären?

Ginge es dem Wald, dem Meer und allen Tieren nicht besser? Und letztlich: Können wir nicht so leben, als wären wir gar nicht da, damit der Planet seine Ruhe hat?

Auch hier also die Utopie eines unberührten Paradieses für Tier und Umwelt, ohne die Zumutungen realmenschlicher Zivilisation.

Das „Utopia-Prinzip“ kennt viele politische Felder. Meist wird es von Parteien und Aktivisten angewendet, die jüngere Menschen in urbanen Gebieten überzeugen.

Der Westen ist immer schuld

Viele von ihnen glauben, dass der Westen verantwortlich ist für globale Ungerechtigkeiten und Umweltkrisen, und dass politische Programme aus dem linksgrünen Spektrum Abhilfe schaffen.

Das ist erstaunlich, wenn man einen genaueren Blick auf diese Programme wirft. Die Ideologie dahinter könnte als „Identity Socialism“ bezeichnet werden.

Hierbei handelt es sich einerseits um Versatzstücke des bekannten Sozialismus: die Idee eines Staates als Vormundschaftsbehörde für das richtige, gute Leben seiner Bürger.

Andererseits geht es um „Identitätspolitik“. Die einzelnen Menschen werden nicht mehr als Individuen adressiert, sondern als Teil einer (diskriminierten) Gruppe.

Die Gesellschaft wird eingeteilt in unterdrückte und unterdrückende Gruppen, deren Interessen sich angeblich in einem Machtkampf gegenüberstehen. Reiche gegen Arme, Frauen gegen Männer, Weiße gegen Nicht-Weiße, Heterosexuelle gegen Nicht-Heterosexuelle.

Der Staat wacht über diesen Kampf als Richterin und strafende Gouvernante. „Identity Socialism“ – das bedeutet in letzter Konsequenz das Ende des Rechtsstaates, denn dieser lebt von universalen Prinzipien und muss alle Bürger gleich behandeln.

Er darf nicht zulassen, dass es zur Beurteilung einer Person wesentlich ist, ob diese weiß, männlich und hetero ist, oder ob sie schwarz, weiblich und lesbisch ist.

Wie sollte eine Gesellschaft, die solche Unterschiede zu einem neuen Machtkampf hochstilisiert, das Zusammenleben besser und friedlicher machen?

Dessen ungeachtet findet das „Utopia-Prinzip“ im medialen Mainstream Anklang und sorgt bei vielen für eine negative, ablehnende Stimmung gegenüber dem Westen. Es stellt sich daher die Frage, was liberale und bürgerliche Kräfte in dieser Situation tun können.

Wie reagieren, wenn öffentlich die Rede ist vom „systemimmanenten“ Rassismus, Sexismus oder Imperialismus des Westens? Keine einfache Frage. Auffällig ist jedenfalls, dass es in großen öffentlichen Foren bisher kaum nennenswerten Widerstand gibt.

Im Gegenteil wirken die bürgerlich-liberalen Akteure oft handzahm, ängstlich. Was würde ihnen helfen? Wie könnten sie öffentlich mehr Überzeugungskraft gewinnen?

Vielleicht würde es helfen, zuerst einmal das „Utopia-Prinzip“ klar zu benennen und, wo immer es angewendet wird, als Mittel guter, verantwortungsvoller Politik zurückzuweisen.

Die bürgerlich-liberale Seite könnte den Menschen zeigen: Wirklichkeitsferne, ideologische Ansätze helfen nicht, sondern spalten und sorgen für ein vergiftetes Klima.

Politik der engagierten Nüchternheit

Politik darf nicht im Dienst von Utopien stehen und versuchen, eine Wunschmenschheit zu konstruieren, sondern sie muss den real existierenden Menschen von heute dienen.

Politik ist ein kompromissorientiertes Handwerk zum Ausgleich von Interessen. Ohne Moralismus und anklägerischen Rigorismus.

Wir brauchen eine Politik der engagierten Nüchternheit und Gelassenheit. Frei nach der Devise von Winston Churchill: „Die Demokratie ist die schlechteste Staatsform, abgesehen von allen anderen.“

Das ist ein brauchbarer Ansatz, um die Errungenschaften des Westens zu verteidigen: „Liberalismus und Kapitalismus sind die schlechtesten Systeme, um eine Gesellschaft zu gestalten, abgesehen von allen anderen.“


Quelle: https://www.welt.de/debatte/kommentare/plus221537798/Das-Utopia-Prinzip-Was-radikale-Bewegungen-bei-ihrer-Systemkritik-vergessen.html

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