Verschwörungsapostel reagieren mit ihren wilden Theorien auf ein selbstgerechtes Establishment
(NZZ)
Je abstruser die Idee, desto hartnäckiger ihre Verteidigung: Verschwörungstheorien präsentieren oft das Unwahrscheinlichste. Die gute Nachricht ist: Sie leben vom Bedürfnis nach Wahrheit. Die schlechte: Medien und Regierung gelten als Lügensysteme. Es gilt, Vertrauen zurückzugewinnen.
Von Giuseppe Gracia
Was ist das eigentlich, eine Verschwörungstheorie? In der Regel geht es um die Behauptung, dass die Regierung und die etablierten Medien nur Scheinwahrheiten produzieren und die eigentliche Wahrheit vor uns verbergen. Eine Wahrheit, die dann von Eingeweihten «aufgedeckt» wird. Diese Wahrheit dreht sich oft um mächtige Geheimzirkel, die «Brainwashing» mit uns betreiben, damit wir geistige Sklaven der Macht bleiben, ohne es zu merken.
Nun stimmt es natürlich, dass es auf der Welt Machtmenschen und Komplotte gibt. Böse Pläne und Grössenwahn gehören seit Adam und Eva zu unserer Geschichte. Doch viele Verschwörungstheorien atmen den Geist des Absurden und Paranoiden. Sie setzen etwas voraus, das in der Realität äusserst unwahrscheinlich ist: Die Kontrollierbarkeit grosser Ereignisse über lange Zeiträume hinweg, mit Hunderten, ja Tausenden von Mitwissern, die alle den Mund halten.
Die Amerikaner sind nie auf dem Mond gelandet, und Tausende von Technikern und Regierungsleuten, die an der historischen Täuschung mitarbeiteten, schweigen seit über einem halben Jahrhundert dazu? Im Jahr 2001 haben die Amerikaner die Twin Towers zum Einsturz gebracht und über 3000 eigene Landsleute ermordet, und der islamistische Hass auf den Westen mit seinen vielen Anschlägen war nur Propaganda? Die Regierungen Europas werden von Schattenmächten kontrolliert (Multis, NGO, Freimaurer, Juden), und alle Regierungen, Millionen von Beamten in der Verwaltung, haben das nicht gemerkt oder spielen mit?
Was eine Verschwörungstheorie langlebig und breitenwirksam machen kann, ist die Unüberprüfbarkeit ihrer grundsätzlichen Annahme. Je weiter weg vom konkret überprüfbaren Alltag ein Ereignis ist (ein Krieg, ein Milliardären-Treffen, ein Schattenkabinett, Ursprung und Wesen einer Pandemie), umso geeigneter für selbsternannte «Aufklärer», die uns auf Youtube in dunkle Zusammenhänge einweihen.
Eine Welt wie bei James Bond
Die wenigsten von uns können auf den Mond fliegen, um nachzusehen, ob da tatsächlich eine US-Flagge im Sand steckt. Es existiert keine Zeitmaschine, um zu überprüfen, wer Kennedy wirklich erschossen hat oder ob in der Area 51 Ausserirdische gefangen gehalten wurden. Die meisten von uns werden nie in den Weltraum reisen, um von dort aus die Erde zu bestaunen. Wir vertrauen der Naturwissenschaft, die uns die Beschaffenheit der Erde mit empirischen Daten erklärt, und hören nicht auf die Gemeinde der Flacherdler.
Die reale Welt ist komplex und voller Unfassbarkeiten, die Menschheit chaotisch. Wenn viele Leute dies nicht ertragen, wenn sie nichts wissen wollen vom Interpretationen-Gewirr und Datensalat postmoderner Zeiten, dann suchen sie Zuflucht in der beruhigenden Dramaturgie von James-Bond-Filmen. Bei 007 wollen reiche Milliardäre regelmässig die Welt beherrschen. Es erstaunt gerade in Corona-Zeiten, wie sehr Internet-Verschwörungen an James Bond erinnern: Covid-19 als Instrument der Mächtigen, um die Massen gefügig zu machen. Ein Milliardär wie Bill Gates als gigantomanischer Bond-Schurke, der den «Great Reset» à la Weltwirtschaftsforum durchziehen will.
Wenn viele Menschen an solche Dinge glauben, auch Menschen aus der Mitte der Gesellschaft, kann man nicht einfach sagen, sie seien zu dumm für die Komplexität der Wirklichkeit. Oder dass es nur darum gehe, mit abenteuerlichen Plots dem grauen Alltag zu entfliehen. Nein, auf einer tieferen Ebene handelt es sich um verlorenes Vertrauen. Vertrauen in die gewählten Regierungen und Institutionen, Vertrauen in die etablierten Medien, von denen sich viele Leute anscheinend belogen und getäuscht fühlen. Das wiederum bedeutet: Die Menschen wehren sich gegen das Gefühl, belogen zu werden. Sie wollen in der Wahrheit leben. Genauer: Sie wollen in einem wahren, echten Verhältnis zur Wirklichkeit stehen.
Die Sehnsucht hinter der Theorie
Vor diesem Hintergrund sollte man den Glauben an manipulative Weltmächte und korrumpierte Institutionen nicht grundsätzlich belächeln. Darin kann eine wichtige Sorge zum Ausdruck kommen. Die Sorge um Individualität und Autonomie. Wer Weltmächten misstraut, möchte ihnen ja nicht zum Opfer fallen. Er sorgt sich also um seine geistige Gesundheit und Freiheit. Seine Sehnsucht nach Freiheit ist grösser als der Herdentrieb. Und es kann ohne eine solche Sehnsucht keine freie Gesellschaft geben.
Wahrheit und Freiheit: Es ist eine gute Nachricht, wenn viele Menschen danach leben wollen. Jedoch eine schlechte, wenn sie davon ausgehen, dass sie von der Regierung keine Freiheit und von den Medien keine Wahrheit mehr bekommen.
Angesichts der Zunahme von Verschwörungstheorien sollten sich Regierende und Medienschaffende eingestehen, dass sie daran vielleicht nicht ganz unschuldig sind. Die Renaissance der öffentlichen Volkspädagogik mit Regenbogenfahne, Klimaschutz und Genderstern, die Bevormundung und Stimmungsmache gegen Regierungsmassnahmen-Kritiker im Namen von Solidarität und Volksgesundheit spalten die Gesellschaft. Sie verschärfen die bereits vorhandene weltanschauliche Polarisierung.
Weckruf für Regierungen und Medien
Der Moralismus vieler Meinungsmacher diffamiert Andersdenkende als «Rechte», als Unmenschen. Fürs Klima und die Corona-Massnahmen vereinnahmen sie «die Wissenschaft», also naturwissenschaftliche Disziplinen wie Klimatologie und Virologie. Damit wird der Eindruck erweckt, dass alle, die das offizielle Narrativ anzweifeln, zu den Schwurblern und Leugnern gehören. Sobald es aber um Genderfragen geht, lassen die gleichen Meinungsmacher Biologie und Neurologie links liegen. Die Naturwissenschaft spielt dann plötzlich keine Rolle mehr. Diesen selektiven, ideologisch gesteuerten Gebrauch «der Wissenschaft» mögen viele nicht klar durchschauen, doch sie spüren, dass etwas nicht stimmt.
Ähnlich verhält es sich bei politischen Totschlagargumenten wie «Mein Körper gehört mir», wenn es um Abtreibung oder Sterbehilfe geht. Argumente, die seit Corona nicht mehr zählen. Seit dem Maskenzwang und dem Druck auf Ungeimpfte heisst es: «Dein Körper gehört der Solidargemeinschaft.»
Das alles macht Verschwörungstheorien natürlich nicht besser. Aber es ist ein Weckruf für Regierungen und Medienschaffende. Sie sollten versuchen, Vertrauen zurückzugewinnen. Moralismus und Bevormundung müssen dem Bemühen weichen, Zweifler und Grundsatzkritiker ernst zu nehmen. Eine lebendige Demokratie braucht unbequeme Bürgerinnen und Bürger. Mit Albert Einstein: «Blinder Glaube an die Obrigkeit ist der schlimmste Feind der Wahrheit.»
Freie Gesellschaften verlieren ihren Boden, wenn der Politik- und Medienbetrieb als Volkserzieher auftritt und so sein Mandat überdehnt. Damit werden Kritiker in den digitalen Lärm ihrer Bubble abgedrängt. Das unterminiert den gesellschaftlichen Zusammenhalt und fördert gerade den Geist der Verschwörung, den es zu bekämpfen gilt. Die Stärke der Verschwörungsapostel ist die Schwäche eines selbstgerechten Establishments.
Giuseppe Gracia ist Schriftsteller, Publizist und Kommunikationsberater.
Quelle: https://www.nzz.ch/feuilleton/verschwoerungstheorien-vom-establishment-beguenstigt-ld.1644776