Meine Begegnung mit Gunnar Kaiser
(Weltwoche)
Erst war ich skeptisch: wieder so ein bebrillter, milde lächelnder Youtube-Guru. Stattdessen lernte ich einen faszinierenden Intellektuellen kennen.
Von Giuseppe Gracia
Gunnar Kaiser? Den Namen hatte ich schon gehört. Ein Deutscher. Kritiker der Regieyrung. Kein Linker, was heute so viel heisst wie: ein Rechter, ein Gefährder. Ich hatte gehört, der Mann sei ein Verfechter der Meinungsfreiheit, ein Kritiker der Corona-Politik. Ganz kurzfristig nahm ich den Auftrag eines anderen Mediums an, Gunnar zu treffen und mit ihm einen Video-Talk zu drehen. Als Vorbereitung schaute ich mir einige seiner Auftritte im Netz an und las seine Texte. Ich war skeptisch. Wieder so ein bebrillter, milde lächelnder Youtube-Guru, der gescheiter ist als der Rest von uns und seine Belehrungen über die postmodernen Bedrohungen der Freiheit verbreitet. Ein «Free Speech»-Apostel, der im digitalen Lärm des Netzes sein Widerstandsnest gebaut hat, um sich als Held gegen die «Systemmedien» und die bösen Globalisten zu inszenieren.
Gutgelaunt, naturnah
Mit gemischten Gefühlen ging ich an das vereinbarte Treffen (abgelegenes Ferienhaus in der Schweiz, wunderbare Gegend) und sah als Erstes Gunnars Kinder (wenn es seine Kinder waren) und seine Frau oder Lebenspartnerin sowie die Verwandten oder Freunde (keine Zeit, genauer nachzufragen, wer all diese Leute waren). Jedenfalls wirkte die Truppe, die uns empfing, gutgelaunt und naturnah – zum Teil barfuss, die Haare lang, die Kinder anständig. Sie hatte das Ferienhaus offenbar gemietet, um Gunnar auf seiner «Schweizer Tour» zu begleiten. Gunnar hatte einige Vorträge, Auftritte und Interviews in der Schweiz zu absolvieren.
Auch er trug keine Schuhe, als wir uns zum Interview auf die Couch setzten und warteten, bis der Kameramann so weit war. 1976 in Köln geboren, studierte Kaiser Philosophie, Germanistik und Romanistik. Seit 2016 betreibt er den Kanal Kaiser TV. Mit Hunderttausenden von Klicks gehört er zu den erfolgreichsten Youtubern im deutschsprachigen Raum. Sein Erstlingsroman «Unter der Haut» (Piper, 2018) wurde in mehrere Sprachen übersetzt.
Während des Interviews wurde er mir sympathisch. Man sah es in seinen Augen, an der Blässe seines Gesichts: Er war müde. Er gab alles. Hinter jedem Satz spürte man die Suche nach einem weiteren Satz, einem weiteren Gedanken, der vielleicht helfen könnte, eine Frage zu beantworten, ein Problem anzugehen. Gunnar ist der Typ, der mit feiner Klinge argumentiert. Er ist der Typ, der geistig dauernd online zu sein scheint. Und er ist belesen.
Wir sprachen über den gegenwärtigen Zustand der Freiheit in Europa, über den Staat als Krankenschwester, über Medienschaffende als links-grüne Aktivisten und Volkserzieher, über westeuropäische Intellektuelle als Erfüllungsgehilfen neosozialistischer Programme zur «Einhegung» der Bürgerinnen und Bürger. Zur Zähmung «neoliberaler» Freiheiten, welche unsere Gesellschaft angeblich ungerecht und das Klima immer wärmer machen, die Natur immer verschmutzter.
Ja, ich mochte Gunnars Müdigkeit, weil ich wusste, was sie bedeutet. Ein echter Guru erschöpft sich nicht. Er weiss die Energie seiner Bewunderer aufzusaugen und damit immer ein paar Zentimeter über dem Boden zu schweben. Ein Freigeist aber, der sich mit der politischen Klasse anlegt, für eine offene Gesellschaft aus selbstverantwortlichen Individuen, verbraucht sich in diesem Kampf. Er kann sich erschöpfen, leerlaufen.
Noch sympathischer wurde mir Gunnar, als ich merkte, dass auch er über vieles ratlos war, was seit Beginn der Corona-Politik mit den Menschen in unserem direkten Umfeld geschah. Über den Erfolg der Angstmache und das stasimässige Verhalten der Leute, die sich nun gegenseitig überwachten, weil sie sich offenbar nur dann wieder wohl fühlten, wenn wirklich alle, auch der renitente Nachbar, sich doch noch zu den maskierten, zertifizierten Schäfchen gesellten. Wenn möglichst alle brav und folgsam wurden. Wenn alle der Regierung vertrauten und man die Schuld für das Fortdauern der Pandemie den Ungeimpften geben konnte (statt etwa der Regierung, den Konzernen oder den chinesischen Biowaffen-Technikern, die das Virus vielleicht designt hatten).
Er leistet Widerstand
Was nehme ich aus der Begegnung mit Gunnar mit? Ich glaube, er ist ein Intellektueller, der mit diesem Status noch die Verpflichtung verbindet, die Macht zu hinterfragen. Die Verpflichtung, sich auch gegen einen angepassten, staatsfrommen Mainstream zu stellen. Er ist jedenfalls kein Feigling, nicht wie im Moment so viele andere: Professoren, Forscher, Kulturschaffende, Ethiker, Juristen, Mediengrössen, die entweder mitmachen oder schweigen, um ihre Karriere nicht zu gefährden. Gunnar mag seine Fehler und Schwächen haben, wie wir alle, aber er leistet Widerstand. Und auf meine Schlussfrage zum Covid-19-Zertifikat sagte er: «Das führt zu einer Zweiklassengesellschaft. Dann werden Gruppen aufeinandergehetzt, weil jeder den anderen verdächtigen muss [die Pandemie zu verlängern]. Das spaltet die Gesellschaft und kann von der Regierung dann wieder ausgenutzt werden. Eine gespaltene Gesellschaft kann leicht regiert werden. Die Schweizer können hier als Einzige in Europa ein Zeichen für die Freiheit setzen. Sie können darüber abstimmen.»
Giuseppe Gracia, 54, ist Schriftsteller, Publizist und Kommunikationsberater. Eben ist sein neuer Roman erschienen: Glorias Finale. Nagel & Kimche. 144 S., Fr. 27.90.