«Die Gesellschaft wird immer mehr zur Castingshow»

Der Begriff Showbusiness gilt vorab für Hollywood, Cannes oder Berlin. Doch: «Bei uns mutiert alles zum Casting: das Jobinterview, die Datingplattform, das Büro, die Disco…», ist Giuseppe Gracia überzeugt.

Von Thomas Feuz

Der Begriff Showbusiness gilt vorab für Hollywood, Cannes oder Berlin. Doch: «Bei uns mutiert alles zum Casting: das Jobinterview, die Datingplattform, das Büro, die Disco…», ist Giuseppe Gracia überzeugt. Sein neuster Roman widmet sich der Frage, wie die Spassgesellschaft überwunden werden kann.

Giuseppe Gracia, wie wichtig sind Ihnen Freundschaften?
Giuseppe Gracia: Familie und Freunde sind das Zentrum meines Lebens. Nicht Arbeit oder Karriere, wie es dem heutigen Ideal entspricht. Das Ideal von heute lautet ja: Selbstverwirklichung durch Karriere und Selbstoptimierung. Ich bin da skeptisch. Der Mensch ist ein Beziehungswesen. Liebe und Freundschaft sind die Quelle eines gelungenen Lebens, wärmen Herz und Seele.

«Freund und Feind»: Sie kennen beides. Ihr Buch «Der letzte Feind» wurde zum Bestseller. Wie erklären Sie sich den Erfolg?
Es geht um die Weltverschwörung einer globalistischen Elite, in die der Vatikan involviert ist und bei der es um die Reduktion und Optimierung der Menschheit geht. Das hat wohl viele angesprochen. Und natürlich gibt es auch eine Liebesgeschichte, im Herzen von Rom.

Was gab den Ausschlag zu diesem Werk?
Bis dahin handelten meine Romane von Fremdarbeitern in der Schweiz, von Liebe, Verlust und Familie. Aber nie von der Kirche. Das wollte ich ändern, in Form eines Thrillers. Mit möglichst viel Substanz. Ein Pageturner mit Tiefgang, das war das Ziel.

Wie schmal ist der Grat zwischen realem Zeitgeschehen und szenarischen Überlegungen beziehungsweise Prognosen eigentlich?
Ich glaube, gute Bücher können nicht aus der Realität herausfallen. Für mich ist das Ziel eine spannende Story mit realistischen Figuren, zu denen eine emotionale Verbindung möglich ist. Ich gehe von der Realität aus, dann übernimmt irgendwann die Phantasie, die Lust am Erzählen. Aber die Ausgangslage bleibt die politisch-gesellschaftliche Situation, in der ich mich befinde.

Sie waren Sprecher des Bistums Chur und Kirchenmitglied…
Ich bin katholisch. Ich bin nur aus der Landeskirche ausgetreten, die eine staatliche Struktur ist und nichts mit der eigentlichen, der sakramentalen Kirche zu tun hat. Für mich ist diese rein schweizerische Struktur unvereinbar mit der weltweiten katholischen Kirche und verstösst gegen die Trennung von Kirche und Staat, die mir sehr wichtig ist.

Welche beruflichen Maximen sind Ihnen als Werte-orientiertem Journalisten wichtig?
Die Liebe zur Wahrheit und zum Leben. Intellektuelle Redlichkeit. Das Engagement für Freiheit, eine offene Gesellschaft ohne staatliche Bevormundung.

Ganz allgemein: Wie wichtig sind klassische journalistische Werte wie Fairness, Ausgewogenheit, Faktenorientiertheit noch?
Ich denke, dass heute viele Journalisten eigentlich politische Aktivisten sind. Sie nennen es Haltungsjournalismus oder «transformativer Journalismus». Klingt toll, ist aber eigentlich einfach Aktivismus für eine bestimmte Agenda – mit journalistischen Mitteln. Das ist legitim, aber es muss offen deklariert werden, wie früher bei der Parteienpresse. Leider aber wird es nicht transparent gemacht, sondern man behauptet, ausgewogen und objektiv zu sein. Dass das nicht stimmt, spüren die Leute, und das Misstrauen wächst.

Wie weit ist diese Entwicklung dem (globalen) Mainstream geschuldet?
Die Digitalisierung hat viele Medien sozusagen geglättet, in einen Einheitsstrom der Meinungen hineingesogen, auch durch die Konzentration auf wenige grosse Medienkonzerne. Da sich viele Journalisten ausserdem mit dem links-grünen Spektrum identifizieren, ist dieser Mainstream auch entsprechend gefärbt. Ändern würde sich das erst, wenn es mehr liberal-bürgerliche oder konservative Medienschaffende gäbe – und Verleger, die solche Stimmen finanziell tragen.

In «Glorias Finale», Ihrem neuen Buch, werfen Sie einen kritischen Blick auf die Unterhaltungsindustrie. Ihre Motivation?
Mir kam die Idee zum Buch, als ich mit meiner kleinen Tochter den «Eurovision Song Contest» schaute. Ich habe mich gefragt, was eigentlich mit den Menschen passiert, die durchs Showgeschäft über Nacht zum Star werden und dann, wenn sie nicht gewinnen, über Nacht wieder von der Bildfläche verschwinden.

«Brot und Spiele» wie bei den alten Römern, einfach peppig aufgemotzt?
Im Roman werden die Akteure auf der Bühne als «Augenfutter» fürs Publikum bezeichnet. So gesehen ist es ein wenig wie bei den Gladiatoren – ohne Blut, ohne körperliche Gewalt. Dafür gibt es psychische Gewalt unter der hochauflösenden Oberfläche.

… ein sehr kritischer Blick!
Ich sehe in der Castingshow eine Art Spiegel unserer Zeit. Bei uns mutiert alles zum Casting: das Jobinterview, die Datingplattform, das Büro, die Discothek. Die ganze Gesellschaft drängt Menschen zur Selbstausbeutung im Namen der Selbstverwirklichung. Meine Heldin Gloria durchschaut das und möchte die Show töten. Der Roman stellt die Frage, ob sich diese Casting-Gesellschaft überhaupt überwinden lässt.

Wer sollte Ihr neues Buch lesen?
Alle, die Freude haben an einer starken, jungen Frauenfigur, die sich gegen die Ausbeutung auflehnt. Alle, die gern an einen spannenden Plot haben, kombiniert mit einem ungeschminkten Blick hinter die Kulissen des Showgeschäfts.

Aktuell wird diskutiert, ob die Leitmedien noch mehr Subventionen erhalten sollen. Stärkt oder gefährdet das die Unabhängigkeit «freien Presse»?
So wie ich für die Trennung von Kirche und Staat bin, bin ich für die Trennung von Medien und Staat. Wer zahlt, befiehlt. Und wenn der Staat Medien bezahlt, befiehlt er auf die eine oder andere Weise dann auch den Inhalt. Eine Demokratie darf das nicht zulassen.

Herr Gracia, haben Sie ein Lebensmotto?
Das Leben und die Menschen lieben. Dankbar sein. Sich selber als erlösungsbedürftigen Menschen sehen, andere nicht verurteilen. Und guten Wein trinken.


Zur Person: Giuseppe Gracia (*1967), verheiratet, 2 Kinder; wohnhaft in St. Gallen. Studium der Theologie, heute Kommunikationsberater, Gastautor (NZZ, Weltwoche, Blick, Welt, Focus online) und Schriftsteller. Soeben erschienen: «Glorias Finale»; frühere Werke: «Der letzte Feind» (2020), «Der Abschied» (islamistischer Terror, Christentum, westliche Werte), «Santinis Frau», «Kippzustand», «Riss».

Dieser Artikel erschien zuerst im EDU Standpunkt.

Zum Buch: Glorias Finale

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