Gott ist tot – der Staat ist Gott? Das wäre eine ganz schlechte Idee

(NZZ)

Europäische Regierungen und Parteien beziehen sich kaum noch auf Gott. Das ist nicht tragisch, wenn Säkularisierung zugleich bedeutet, dass die Religionsfreiheit verteidigt und der Staat nicht selbst zu einem neuen Gott wird.

Von Giuseppe Gracia

In Westeuropa verdunstet das Christentum. Es kann daher nicht überraschen, wenn Staatsoberhäupter sich bei der Vereidigung nicht mehr auf Gott berufen. Welcher Bundesrat oder Exekutivpolitiker möchte heute ernsthaft von Gott sprechen, um politische Entscheide zu legitimieren?

Der weltanschauliche Pluralismus schreitet im Westen unausweichlich voran. Gesellschaftliche Polarisierung und Individualismus führen zu immer vielfältigeren Moralvorstellungen aufgrund heterogener Lebensmodelle und Daseinsinterpretationen. Umso wichtiger ist es, dass der Staat religiös neutral bleibt und nicht versucht, seine Bürger auf weltanschauliche Bekenntnisse zu verpflichten. Der Staat darf sich nicht volkspädagogisch überhöhen, sondern muss die weltanschauliche und moralische Freiheit der Religionsgemeinschaften schützen.

«Die Despotie kann auf Religion verzichten, die Freiheit nicht»

Jürgen Habermas hat in seinem Buch «Zwischen Naturalismus und Religion» (2005) von einer «weltanschaulichen Polarisierung» der Gesellschaft gesprochen. Dabei hat er klargestellt: Die religiöse Vielfalt ist ein Gradmesser für individuelle Rechte. Und Larry Siedentop, ein Oxford-Professor für Ideengeschichte, bietet im Buch «Die Erfindung des Individuums» (2015) einen profunden Überblick dazu, wie das christliche Denken den Weg zum Liberalismus nicht nur ebnete, sondern überhaupt erst ermöglichte.

Wenn Christen in ihrem täglichen Leben die Zehn Gebote hochhalten, dient das dem moralischen Grundwasserspiegel auch der heutigen Gesamtgesellschaft. Im Sinne von Alexis de Tocqueville, der im Werk «Über die Demokratie in Amerika» festhielt, dass die Sitten zur Seele des politischen und demokratischen Bewusstseins gehörten und dass diese nicht aus den Institutionen kämen, sondern aus der Religion. «Die Despotie kann auf Religion verzichten, die Freiheit nicht.»

Das Christentum ist kein politisches Programm

Wer eine freie Gesellschaft bewahren will, muss die Religionsfreiheit und das freie Wirken der Religionsgemeinschaften verteidigen. Im Übrigen ist Gelassenheit geboten, wenn politische Parteien verschwinden, die ein «C» im Namen tragen. Das Christentum ist kein politisches Programm und darf nicht auf eine Partei verengt werden. Auch sind Christen keine politische Gemeinschaft, sondern eine Glaubensgemeinschaft.

So wie alle Bürger können Christen in vielen Fragen des politischen Tagesgeschäfts unterschiedliche Ansichten vertreten und verschiedene Parteien wählen. Denn es ist eine Sache, gleiche Grundsätze wie etwa die Nächstenliebe oder die Sorge um die Natur zu haben. Und etwas ganz anderes, die konkrete Umsetzung in oftmals komplexen gesellschaftlichen Realitäten zu beurteilen, bei der es einen legitimen Pluralismus der Überzeugungen gibt.

Aus dem gleichen Grund sollten die Kirchen nicht mit Jesus Politik machen. In den letzten Jahren fallen sie nämlich nicht dadurch auf, dass sie Gott oder die Auferstehung von den Toten bezeugen. Sondern dadurch, dass sie sich dem Staat andienen, als steuerfinanzierter, zivilreligiöser Moralinspender. Oder dass sie versuchen, medial angesagte Programme bezüglich Gender, Klima und Migration christlich zu imprägnieren. Das ist ein Missbrauch der Institution Kirche. Abgesehen davon, dass Bischöfe und Päpste viele Sachfragen gar nicht fachkompetent beurteilen können, seien sie naturwissenschaftlicher, politischer oder volkswirtschaftlicher Natur.

Der Staat darf nicht predigen und exkommunizieren

Säkularismus bedeutet allerdings nicht nur, dass die Kirche sich aus Staatsgeschäften heraushält, sondern auch, dass der Staat nicht durch ersatzreligiöse Handlungen übergriffig wird. Dass er nicht anfängt, zu predigen, zu heiligen oder zu exkommunizieren. Dass er nicht anfängt, Wahrheiten und Moralvorstellungen zu verkünden.

In diesem Zusammenhang ist die gängige Rede von der «Wertegemeinschaft» nicht unproblematisch. Oft mögen Staatsdiener damit nur einen Wertekonsens für das Zusammenleben meinen. Sie könnten aber auch versucht sein, politische Programme mit Verweis auf höhere Werte (Solidarität, Gesundheit, Antidiskriminierung) verbindlich ans Gewissen der Bürger zu binden und Alternativen als ethisch minderwertig abzukanzeln.

Die Verteidigung der Religionsfreiheit

Davor warnte seinerzeit der Philosoph Robert Spaemann in einem Beitrag für die NZZ: «Ein Staat, der sich der individuellen Freiheit verpflichtet sieht, verlangt die Befolgung seiner Gesetze, nicht die Übereinstimmung mit Werten. Das ist das Fundament moderner Freiheit, unter Schmerzen im Zuge der Religionskriege erobert. Deshalb ist es gefährlich, vom Staat als ‹Wertegemeinschaft› zu sprechen, denn die Tendenz besteht, das säkulare Prinzip zugunsten einer Diktatur der politischen Überzeugungen zu untergraben.»

Eine solche Diktatur der politischen Überzeugungen verhindert der Staat am ehesten dadurch, dass er die Religionsfreiheit verteidigt und sich selber als Rechtsgemeinschaft ohne gesellschaftliches Erziehungsmandat betrachtet. Er ist dann ganz bei der katholischen Kirche, die mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil klargestellt hatte, dass der Staat und die Kirche auf je ihrem Gebiet voneinander unabhängig und autonom sein müssten. Denn die Kirche dürfe in keiner Weise hinsichtlich ihrer Aufgabe und Zuständigkeit mit der politischen Gemeinschaft verwechselt werden. Gerade so sei sie «Zeichen und Schutz der Transzendenz der menschlichen Person» (Gaudium et Spes, 76).

Soll Gott aus der Verfassung verschwinden?

Der Verweis auf die Transzendenz des Menschen in diesem Zusammenhang ist bedenkenswert. Für die Kirche ist die jüdisch-christliche Gottesebenbildlichkeit des Menschen Grundlage für die unantastbare Würde und damit für die Menschenrechte, für die Bedingungen der Möglichkeit einer freien Gesellschaft.

Bedeutsam ist das für die Frage, ob Gott aus der Verfassung verschwinden solle. Für viele ist der Name Gottes in der Verfassung eine Erinnerung daran, woher die Freiheit kommt, dass es über dem Menschen noch etwas Höheres gibt. Doch wie immer man dazu steht: Noch wichtiger ist es, dass die Religionsgemeinschaften die Stelle Gottes vertreten. Das bewahrt den Staat davor, sich selbst zu überhöhen und als weltanschaulicher Bevormunder mit «Werten» die Gewissen zu bedrängen. Auf dieser Aufgabenteilung zwischen Staat und Kirche ruht die freiheitliche Gesellschaft.

Natürlich kann man für Zivilisationen ohne Religion plädieren, für einen atheistischen Humanismus, der das Christentum angeblich überflüssig macht. Angesichts der unbestreitbar christlichen Wurzeln des Westens ist das allerdings geschichtsvergessen. Und nicht ganz ungefährlich. So war es nämlich gerade das Kennzeichen der letzten grossen Versuche, das Christentum zu überwinden – Kommunismus und Nationalsozialismus –, sich selbst an die Stelle Gottes zu setzen.

Giuseppe Gracia (54) ist Schriftsteller, Publizist und Kommunikationsberater.


Quelle: https://www.nzz.ch/feuilleton/gott-ist-tot-der-staat-ist-gott-das-waere-eine-schlechte-idee-ld.1652081

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