Wenn die Landeskirche Homosexuellen und Frauen nicht gleiche Rechte einräumt, muss sie sich vom Staat abkoppeln

(Nzz.ch)

Für die westliche Kultur ist die Religionsfreiheit grundlegend. Doch der Druck auf sie wächst. Wie verträgt sich das Selbstbestimmungsrecht von Glaubensgemeinschaften mit dem Gleichstellungsrecht für die Frauen oder dem Diskriminierungsverbot gegenüber Homosexuellen?

Giuseppe Gracia

Die Ehe für Homosexuelle wird vom Staat unterdessen ermöglicht, nicht aber von der katholischen Kirche.

Juristen sprechen von Grundrechtskollision, wenn fundamentale Rechte aufeinanderprallen, zum Beispiel die Freiheit des Satirikers, sich über bekannte Personen lustig zu machen, gegenüber dem Recht der Betroffenen auf den Schutz ihrer Würde. In einem solchen Spannungsfeld verlangt die Theorie der Grundrechtskollision eine differenzierte Güterabwägung.

Auch zwischen Religionsfreiheit und Diskriminierungsverbot gibt es Spannungen, gut zu beobachten im Fall der katholischen Kirche. Immer wieder wird gefordert, die Kirche müsse sich ans Zeitalter der Frauenrechte und der «Ehe für alle» anpassen. Der katholische Katechismus bejaht Sex bekanntlich nur innerhalb einer gültig geschlossenen Ehe zwischen einem Mann und einer Frau. Frauen dürfen nicht Priesterin werden. Homosexuelle können weder kirchlich heiraten, noch dürfen sie als Paar gesegnet werden. Ihre sexuellen Akte gelten als Sünde.

Das orthodoxe Judentum und der Islam beurteilen diese Fragen zwar ähnlich, erlauben keine Frauen in geistlichen Leitungsämtern und lehnen homosexuelle Akte ab. Dennoch sorgt das Thema nur im Fall der katholischen Kirche für anhaltende öffentliche Kontroversen.

Wie sehr ist das Selbstbestimmungsrecht der katholischen Kirche noch gesellschaftlich akzeptiert? Und was bedeutet das grundsätzlich für die Akzeptanz der Religionsfreiheit in einer postchristlichen Gesellschaft?

Religiöse Toleranz als Fundament des sozialen Friedens

In der liberalen Tradition, von John Locke über Immanuel Kant bis Friedrich August von Hayek – unter dem historisch folgenschweren Eindruck der Religionskriege –, galten religiöse Toleranz und Religionsfreiheit als Fundament des sozialen Friedens, als Voraussetzung für die Meinungs- und Glaubensfreiheit des Einzelnen gegenüber dem Staat. Alexis de Tocqueville («Über die Demokratie in Amerika», 1835) war überzeugt, dass die Sitten des Menschen überlebensnotwendig für die Seele des politischen und demokratischen Bewusstseins seien, dass sie aber nicht aus dem Staat oder den Institutionen kämen, sondern aus der Religion. Deshalb: «Die Despotie kann auf Religion verzichten, die Freiheit nicht.»

Diese Überzeugung beeinflusste im 20. Jahrhundert den Staatsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde ebenso wie das Denken eines Jürgen Habermas, der sich als «religiös unmusikalisch» bezeichnet und in der Religionsfreiheit dennoch den «Schrittmacher kultureller Rechte» sieht.

Der Druck auf die Religionsfreiheit wächst

Ist eine solche Sichtweise heute noch konsensfähig? Insbesondere in Westeuropa nimmt der Druck auf die Religionsfreiheit zu, nicht nur politisch, auch juristisch. So plädiert die Juristin Denise Buser, Professorin an der Universität Basel, für eine «Übertragung des staatlichen Gleichstellungsrechts auf den religiösen Bereich». Im Vortrag «Die katholische Priesterin» (2005) bezeichnet sie die Annahme eines Selbstbestimmungsrechtes für öffentlichrechtlich anerkannte Kirchen als «nicht zwingend». In der Bundesverfassung fehle eine Garantie, und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte habe sich dazu nicht eindeutig geäussert. Die Stellung der Frau in der Kirche solle einem «ähnlichen Wertmassstab gerecht werden» wie im staatlichen Bereich.

Folgt man dieser Denkweise, besteht Religionsfreiheit nicht mehr wesentlich darin, einer Glaubensgemeinschaft eigene Massstäbe zuzubilligen, unabhängig vom Staat oder vom herrschenden Mehrheitsempfinden. Sondern der Staat hat in gewissen Fällen das Recht, Glaubensgemeinschaften zur Anpassung zu zwingen. In der Konsequenz könnte man so weit gehen, nur noch gesellschaftliche Akteure zuzulassen, die über politische oder juristische Prozesse verändert und verfügbar gemacht werden können, gemäss dem Empfinden einer Mehrheit.

Resultat wäre eine Gesellschaft, die als obersten Massstab nur noch sich selbst akzeptiert. Alles Unverfügbare, Mehrheitsunfähige müsste weichen, im Namen des gesellschaftlichen Wandels.

Grundrechte als moralisches Druckmittel

Soll der Staat nun also das Diskriminierungsverbot höher gewichten als die Religionsfreiheit unzeitgemässer Gruppen? Darf er die Grundrechte als moralisches Druckmittel gegen diese Gruppen einsetzen? Vom Wesen her wurden Grundrechte in der Tradition immer auch als Abwehrrechte des Bürgers gegenüber dem Staat verstanden, der das Gewaltmonopol besitzt. So bezeichnen Grundrechte Grenzen der Staatsmacht, nicht Grenzen der moralischen Freiheit des Bürgers. Auch bei der Grundrechtskollision geht es um eine differenzierte Güterabwägung zwischen Rechtsansprüchen, nicht um ein neues Verständnis des Grundrechts als Bürgerpflicht.

Desgleichen bedeutet Säkularisierung in erster Linie die Trennung von Religion und Staat, nicht das staatliche Durchsetzen säkularer Wertmassstäbe. Wer den Rechtsstaat als Garant einer freien und vielfältigen Gesellschaft bewahren will, muss auch die Freiheit unzeitgemässer Glaubensgemeinschaften verteidigen. Frauen, die Priesterinnen werden möchten, oder Homosexuelle, die einen religiösen Segen erwarten, genügen nicht als Grund, um die Religionsfreiheit auszuhebeln. Das Gefühl, diskriminiert zu werden, steht nicht über dem Selbstbestimmungsrecht einer Glaubensgemeinschaft.

Die Staatsnähe verpflichtet

Andererseits wäre im Fall der katholischen Kirche in der Schweiz der öffentlichrechtliche Status der Landeskirchen dennoch ein Grund für staatliche Interventionen. So sieht es Professor Markus Müller von der Universität Bern («Religion im Rechtsstaat», 2017). «Will der Staat seine Glaubwürdigkeit nicht aufs Spiel setzen, darf er nicht tolerieren, dass eine von ihm in den öffentlichrechtlichen Stand erhobene Religionsgemeinschaft Grundrechtspositionen missachtet.» Mit anderen Worten: Bewegen sich Religionsgemeinschaften wie andere zivilgesellschaftliche Akteure im Privatrecht, bleiben sie frei, ihrer Mission zu folgen.

Aber je mehr Staatsnähe eine Organisation beansprucht – etwa um der Steuerhoheit willen –, desto mehr ist sie wie der Staat grundrechtsverpflichtet. Dann wird es fraglich, ob die Religionsfreiheit noch Vorrang hat.

In diesem Sinn ist den Vertretern der katholischen Landeskirche Zürich, die öffentlichrechtlichen Status geniesst, zuzustimmen: Sie rufen im Hinblick auf die Grundrechte seit Jahren nach Reformen, nach einer Sexualmoral im Stil der Genderstudies, nach der Zulassung der Frau zum Priesteramt oder nach der Abschaffung des als menschenunwürdig empfundenen Zölibats.

Religionsfreiheit geht vor, aber nicht in jedem Fall

Will die katholische Kirche in Zukunft ihre millionenschweren Privilegien als öffentlichrechtliche Körperschaft behalten, muss sie sich entsprechend anpassen. Oder sie organisiert sich wie in Frankreich oder in den USA privat. Dann muss der Staat ihr Selbstbestimmungsrecht garantieren.

Religionsfreiheit oder Diskriminierungsverbot? Bei einer klaren Trennung von Kirche und Staat geht die Religionsfreiheit vor, jedoch nicht bei einer öffentlichrechtlichen Körperschaft – einer solchen darf der Staat nicht erlauben, Menschen aufgrund ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Ausrichtung ungleich zu behandeln.

Giuseppe Gracia (54) ist Schriftsteller, Publizist und Kommunikationsberater.


Quelle: https://www.nzz.ch/amp/feuilleton/landeskirchen-der-druck-auf-die-religionsfreiheit-waechst-ld.1688268

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