Der Posthumanismus ist in Wahrheit ein Antihumanismus
Er macht aus dem Menschen ein beliebig manipulierbares Produkt
(Nzz.ch, 28.09.2022)
Die Menschheit kann Grosses vollbringen, ohne dem Grössenwahn zu verfallen. Dazu braucht der Fortschrittsglaube ein ethisches Leitbild.
Giuseppe Gracia
(Sieht die Zukunft des Menschen so aus? Oder sehen so demnächst unsere Assistenten aus? Der «BlessU-2»-Roboter segnete im letzten Frühjahr Besucher der Ausstellung «Planet Digital» im Museum für Gestaltung Zürich.
Annick Ramp / NZZ)
Es ist unbestritten, dass Technologie und wissenschaftliche Innovation das Leben von Millionen verbessert haben und weiterhin verbessern, sei es auf dem Gebiet der Medizin und Robotik, sei es im Bereich der globalen Kommunikation oder des Kampfes gegen Hunger und Katastrophen. Mit dem wissenschaftlich-technischen Machtzuwachs über Natur und Zusammenleben wächst freilich auch die Gefahr, dass der Mensch nicht nur lebensdienliche Produkte herstellt, sondern sich selber als Produkt begreift, als Objekt der Gestaltung und Manipulation.
Der postmoderne Mensch definiert sich als Resultat von natürlichen, kulturellen und technischen Entwicklungen. Das verläuft noch in den Bahnen einer aufklärerischen Sichtweise des Menschen, der sich weiterentwickeln will. Demgegenüber versteht sich der Posthumanismus als Philosophie, die darauf ausgerichtet ist, traditionelle Konzeptionen des Menschseins grundsätzlich zu überwinden. Posthuman bedeutet darum die Überwindung der Menschheit, wie wir sie kennen.
Es ist eine Philosophie, die im Menschen die Summe seiner Daten sieht, ein rein materielles Wesen, nur graduell unterschieden vom Tier. Das Gehirn ist eine Art Computer mit Gedankensoftware, der Körper eine Maschine, die zur Fehlerbehebung regelmässig gewartet werden muss. Der Mensch wird dann vollends zum Mängelwesen, das nach erlösenden Implantaten verlangt, nach medizinischen Eingriffen, künstlicher Intelligenz, Kybernetik und Nanotechnologie.
Mit den Worten des israelischen Historikers Yuval Noah Harari: «Nachdem wir die Menschheit über die animalische Ebene des Überlebenskampfs hinausgehoben haben, werden wir nun danach streben, Menschen in Götter zu verwandeln und aus dem Homo sapiens den Homo Deus zu machen.» In einer solchen Denkweise ist die natürliche Evolution an ihre Grenzen gelangt und kann nur mit einer Techno-Evolution überwunden werden.
Updates für Individuen
Ziel ist eine Roboterkultur mit überlegenen geistigen Fähigkeiten, welche die bisherige Menschheit ablöst – und damit den Humanismus der klassischen Menschenrechte. Die Idee einer unantastbaren Würde des Einzelnen, unabhängig von seiner sozialen Stellung und von seinen Fähigkeiten, wäre damit Vergangenheit. Dass wir unveräusserliche Rechte haben allein deshalb, weil wir zur Gattung Mensch gehören, diese Überzeugung wurzelt in der Ebenbildlichkeit Gottes, im Boden des jüdisch-christlichen Denkens, und wurde durch die Aufklärung wirkmächtig umgesetzt.
Aus biblischer Perspektive ist der Wunsch, sich vom Geschöpf in den Status des Schöpfers zu erheben, so alt wie die Menschheit. Neu ist der spektakuläre technische Fortschritt der letzten Jahrzehnte, der die Allmachtsphantasien breitenwirksam und populär gemacht hat, nicht zuletzt dank Erzeugnissen der Unterhaltungs- und Medienindustrie. Zumindest im Westen dürfte der Glaube weit verbreitet sein, dass es möglich und nötig ist, in Zukunft nicht nur Computer und Smartphones mit periodischen Updates zu verbessern, sondern auch Individuen.
So wird es zum Zeichen der Zeit, dass wir in einem nie gekannten Ausmass die Wahl haben, den Menschen als Objekt zu sehen. Dann ist sein Wert nur so gross wie die Menge an Output, den er aus sich herausholt. Die Würde des Einzelnen steht in direkter Abhängigkeit zur Bereitschaft, sich laufend im Dienst der erwünschten Leistungskurve zu optimieren.
Die drastische Folge schildert Harari so: «Die wichtigste ökonomische Frage des 21. Jahrhunderts dürfte sein, was wir mit all den überflüssigen Menschen anfangen. Was sollen bewusste Menschen tun, sobald wir über hochintelligente nicht-bewusste Algorithmen verfügen, die fast alles besser können?»
Hier klingt die totalitäre Gefahr des Posthumanismus an. So warnte der 2008 verstorbene Informatiker und Wissenschaftskritiker Joseph Weizenbaum schon vor Jahren davor, dass sich die Vorstellung durchsetze, der Mensch sei lediglich eine informationsverarbeitende Maschine, die von einem Roboter ersetzt werden könne. Weizenbaum sieht das Fundament des Humanismus in Gefahr, wenn einmal die Ehrfurcht vor dem Menschen verlorengeht: «Die wesentliche Gemeinsamkeit zwischen dem Nationalsozialismus und vielen posthumanistischen Ideen liegt in der Entwürdigung des Humanen und der Phantasie eines perfekten neuen Menschen, der geschaffen werden muss; am Schluss dieser Perfektionierung ist der Mensch allerdings nicht mehr da.»
Hightech und Bibel
Auch wenn Nazi-Vergleiche meist problematisch sind: Die Vergangenheit lehrt, wie schnell Machbarkeitswahn und Technologiegläubigkeit ins Totalitäre abgleiten können. In der biblischen Erzählung vom Turmbau zu Babel steckte das Versprechen auf einen direkten Zugang zur Chefetage der Schöpfung, um an die Hebel der Macht zu kommen. Das hat die Architekten und Himmelsstürmer zum Totalitären verführt, so dass sie für den gewaltigen Bau Generationen von Menschen versklavt und getötet haben in Erwartung paradiesischer Zustände bei Vollendung des Projekts.
Bis heute bleibt es eine zivilisatorische Herausforderung, sich als offene Gesellschaft hohe Ziele zu bewahren, ohne abzugleiten ins Anmassende, Inhumane. Es gilt, das Verlangen nach wissenschaftlich-technischen Verbesserungen zu bewahren, ohne gleichzeitig den Menschen zum überflüssigen Wesen zu machen und ohne die Ehrfurcht vor dem Leben zu verlieren.
Gelänge es dem Westen, sein kreatives Potenzial ohne Berührungsängste mit der jüdisch-christlichen Tradition zu verbinden, könnte noch vieles erreicht werden. Wenn Hightech und Bibel, Innovation und Tradition nicht als Gegensätze gelten, sondern als sich gegenseitig befruchtende und begrenzende Erfolgsfaktoren einer lebensdienlichen Kultur, dann kann der Mensch Grosses vollbringen, ohne dem Grössenwahn zu verfallen. Er würde im Bewusstsein leben, Mitarbeiter des Schöpfers, nicht der Schöpfer selbst zu sein. Verfällt die digitale Kultur jedoch einer reinen Verwertungs- und Optimierungspraxis, dürfte sie ihr menschliches Gesicht verlieren. Hin zu einer Welt aus dauerberieselten, dauerbeschäftigten Ameisen mit smarten Uhren, Algorithmen und Social-Credit-Systemen.
Giuseppe Gracia ist Schriftsteller, Publizist und Kommunikationsberater.