Die ersten Seiten meines neuen Romans «Schwarzer Winter» über radikale Klimaaktivisten.

Zuerst ist es, als würde sie nur zuschauen, als würde sie neben sich selber im Auto sitzen, stumm, abgetrennt von den anderen. Erst als sie die Kalaschnikow in die Hände nimmt – die Kühle des Griffs, der Geruch nach Schmierfett -, bricht es durch: das warme, unangenehme Fiebergefühl. Und das Zittern.

Das ist wirklich, denkt sie. Ich tue es wirklich.

Betroffen vom Zittern sind vor allem die Hände, auf die sie nicht achten will. Die Hände, die ruhig bleiben sollen, weil es keinen Grund für die Anspannung gibt, weil sie mit den anderen trainiert hat und vorbereitet ist.

Doch das Zittern bleibt, wandert hinab in die Beine.

Auf dem Beifahrersitz dreht sich Julia zum Fenster und blickt nach draußen, um sich abzulenken. Blickt in die dunkelblaue Dämmerung über dem Stoppelfeld, an dem sie entlangfahren.

In der Ferne tauchtein Hochspannungsmast auf, mit den dünnen, schwarz in den Himmel gezeichneten Zweier- und Dreierlinien der Stromleitungen.

«Fünf Minuten», sagt Popeye.

Das ist nicht sein richtiger Name, sondern ein Deckname. wie sie hier alle einen verwenden. Alle außer Julia, weil es bei ihr keinen Sinn macht, weil jeder ihren Namen – Julia Schwarz – aus der Zeitung kennt, aus dem Fernsehen.

Ob Popeye das Zittern bemerkt? Chris, Marge? Sie haben das T2 eingenommen und wirken konzentriert. Marge stiert mit großen glänzenden Augen auf den Schirm ihres Smartphones.

Haben sle Angst? Das T2 putscht auf und bringt einen in Fahrt, doch die Angst kann trotzdem kommen, durch die Ritzen der Entschlossenheit.

Immer wieder hat Popeye Julia das T2 angeboten – ausgerechnet er, der es bestimmt nicht braucht. Popeye ist der Letzte in der Gruppe, der das Zeug braucht.

Noch drei Minuten.

Alles okay, sagt sich Julia.

Zugleich hat sie das Gefühl, dass es ein Fehler gewesen ist, die Sache zu planen, dass der Plan zu viele Löcher hat. Dass sie spätestens beim Schlachthaus Probleme bekommen werden. Dass jemand erschossen wird.

Julia hält ihre Kalaschnikow fest.

Zwei Minuten.

Chris, bisher still am Steuer, räuspert sich.

Julia muss an ihren Vater denken, an jenen Nachmittag, als er sie mit dem Auto vom Bahnhof abgeholt hat. Wie viele Jahre ist es her? Zehn? Zwölf?

Damals muss sie um die vierzehn gewesen sein. Sie erinnert sich, wie überrascht sie war, den Vater auf dem Bahnsteig zu sehen, weil er sie noch nie vorher abgeholt hatte. Weil es ihn noch nie interessiert hatte, wann sie von einem Schulausflug zurückkehrte.

Sie erinnert sich an sein ernstes Gesicht beim Verlassen des Bahnhofs. Sie erinnert sich an das Schweigen, als sie zum Wagen gingen und der Vater sich ans Steuer setzte, um sie durch den Verkehr zu lenken.

Und dann sagte er leise: «Es tut mir – leid.»

Julia verstand nicht. Was war los?

«Deine Mutter», sagte der Vater.

Er blickte durch die Windschutzscheibe nach draußen in den Verkehr. «Sie liegt im Krankenhaus, wir fahren hin.»

«Im Krankenhaus?»

«Sie hat versucht. sich das Leben zu nehmen.»

Natürlich hatte Julias Vater noch mehr gesagt. Er hatte sich Mühe gegeben, seiner Tochter die Lage zu erklären – doch Julia erinnert sich an kein einziges Wort. Sie erinnert sich nur an den Klang der Stimme. Dass es eine fremde Stimme war. – Warum sie ausgerechnet jetzt daran denken muss?

Noch eine Minute.

Das Smartphone von Marge: Jetzt leuchtet der Bildschirm auf. Ein Anruf – Klingelton stummgeschaltet.

Marge nimmt den Anruf entgegen, hört einige Sekunden zu und schaltet das Gerät aus.

Gute Nachrichten: Die anderen sind unterwegs, keine Zwischenfalle. Sie werden wie geplant beim Osttor vor dem Schlachthof warten.

Marge schickt ein Lächeln in die Runde, doch Julia fällt auf, dass die Hand, mit der sie das Smartphone hält, leicht zittert.

«Es ist so weit», sagt Popeye.

Ja, man kann jetzt die Anhöhe sehen. Es ist nicht mehr weit bis nach Fischertal. der Siedlung im Berner Oberland, ihrem Ziel.

Nun muss es schnell gehen. Julia hat den Text eingeübt, die Notizen stecken in ihrer Jackentasche.

Den ersten Teil des Videos haben sie im Warenlager in Oerlikon gedreht. Es war klar, dass Julia auftreten würde, wegen ihrer Erfahrung beim Schweizer Fernsehen, weil sie weiß. wie man sich in Szene setzt, wie man die Stimme moduliert, die Hände ruhig hält, in die Kamera blickt.

Popeye ist bereits aus dem Wagen gesprungen.

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