Klimapolitik als Ersatzreligion

(Tagesanzeiger.ch)

Die postchristliche Gesellschaft ist nicht weniger religiös geworden. Sie kennt den Glauben an moralischen Fortschritt durch Wissenschaft. Oder jenen an Selbstverwirklichung durch Selbstoptimierung.

Giuseppe Gracia

Klimaaktivistische Gruppierungen wie die «Letzte Generation» oder Extinction Rebellion verbreiten religiös aufgeladene Endzeitstimmung und sehen im Klimawandel eine Erbsünde des Kapitalismus. Daraus resultiert die Forderung nach dem Systemwechsel, nach dem Ende freiheitlicher Lebensmodelle.

Nun ist es unbestritten, dass der Mensch den Klimawandel beeinflusst, so, wie wir die Natur seit vielen Jahren schlecht behandeln. Es hilft aber nicht weiter, wenn Aktivisten die grössten Umweltsünder wie China, Indien oder Russland vergessen und nur den Westen anklagen.

Es hilft auch nicht, wenn man eine sogenannte «Non-Human Perspective» einnimmt. Wenn man die Auswirkungen der Menschheit auf die Umwelt nach dem utopischen Ideal einer Natur ohne eine technische Zivilisation beurteilt. Wenn man die Millionen von Jobs durch technische Innovation vergisst oder die grandiosen Fortschritte im Bereich Armutsbekämpfung und Lebenssicherung in Entwicklungsländern. Wenn man den medizinischen Fortschritt seit Beginn der Chemieindustrie vergisst. Wenn man nur fragt: Wie wäre es, wenn alle diese Umweltbelastungen nicht wären?

Und letztlich: Können wir nicht so leben, als wären wir gar nicht da, damit der Planet seine Ruhe hat? In diesem Denken scheint es keinen Platz mehr zu haben für die Zumutungen realmenschlicher Zivilisation.

Die Sorge ums Klima ist zu wichtig, um sie totalitären Apokalyptikern und Angstmacherinnen zu überlassen.

Ich persönlich fliege selten. Ich besitze kein Auto und pendle seit zwanzig Jahren mit dem Zug. Ich betrachte mit Sorge unsere verkehrsverstopften Metropolen. Am liebsten hätte ich überall Fussgängerzonen und betrachte unsere Wegwerfkultur als zivilisatorisches Armutszeugnis. In diesen Fragen bin ich ein Grüner. Aber ich kann den religiösen Eifer nicht nachvollziehen, mit dem politische Gruppen die Klimadiskussion dominieren, um Andersdenkende als Klimaleugner oder schlechte Menschen zu diffamieren. Das verhindert eine offene Debatte. Eine Debatte, die wir brauchen, um gute Lösungen zu finden.

Die Sorge um die Umwelt sowie die Entwicklung des Weltklimas ist zu wichtig, um sie totalitären Apokalyptikern und Angstmacherinnen zu überlassen. Es ist entscheidend, zu erkennen, dass eine Politik der Angst aus der Freiheit heraus in den Totalitarismus führen kann. Deshalb sollte man der Sorge um die Natur mit Augenmass und Vernunft begegnen – und mit dem Glauben an die Kreativität und das Potenzial einer freiheitlichen Kultur.

Gerade heute brauchen wir nicht noch mehr Pessimismus, sondern wieder den Optimismus der Aufklärung. Die Aufklärer haben an den Menschen geglaubt, an die Kraft seines Verstandes und seiner Fähigkeit, herauszutreten aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit. Sie haben an Freiheit und Kreativität geglaubt, wichtige kulturelle Kräfte, um auch grosse Probleme zu lösen.


Giuseppe Gracia ist Schriftsteller, Theologe und Kommunikationsberater und war Mediensprecher des Bistums Chur. Sein neuer Roman «Schwarzer Winter» (Fontis Verlag, 2023) handelt von terroristischen Klimaaktivisten.

Quelle: https://www.tagesanzeiger.ch/klimapolitik-als-ersatzreligion-158906223934

Ähnliche Beiträge

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert