Der Schriftstelle Giuseppe Gracia nimmt es mit dem Zeitgeist auf

(St. Galler Tagblatt, 24.03.2022)

Der 55-Jährige wuchs als Sohn eines Sizilianers und einer Spanierin in der Stadt St.Gallen auf. Am Ort seiner Kindheit erzählt er vom Fussballspielen im Hinterhof und spricht über den Sinn des Lebens.

Rolf App

2011 wurde Giuseppe Gracia Bistumssprecher in Chur und sistierte aus Zeitgründen sein Theologiestudium. 2021 verliess er das Bistum in Chur. Bild: Marius Eckert

Er sagt: «Wenn Sie wissen wollen, wer ich bin, dann fragen Sie Antje, meine Frau. Wir sind seit 25 Jahren verheiratet; niemand kennt mich besser als sie, nicht einmal ich selber.» Sie sagt: «Für mich ist das Besondere an ihm, dass er eine grosse Freiheit im Denken hat. Dass er Menschen gern hat und sehr warmherzig ist – auch natürlich als Vater unserer beiden Kinder.»

Wie in seinem Kopf das Reale, Alltägliche und das Grundsätzliche ineinandergreifen, und wie wichtig ihm Menschen sind, das zeigt der 55-jährige Schriftsteller, Journalist und Kommunikationsberater Giuseppe Gracia gleich zu Beginn unseres Kennenlernens. Wir stehen an der St.Galler Oberstrasse, schräg gegenüber dem Haus, in dem er in der dritten Etage aufgewachsen ist.

«Wie damals. Fast nur Ausländer», sagt Giuseppe Gracia über das Haus seiner Kindheit. Bild: Marius Eckert

Und während – wie damals – der Verkehr an uns vorbeidonnert und wir auf den Fotografen warten, sagt er: «Kürzlich bin ich im Interview mit einer Psychoanalytikerin für einen Podcast auf den Begriff ‹nekropolitische Konsumation› gestossen. Das bedeutet: Wir sind von toten Sachen umgeben, verkehren über SMS, Mail, Fotos und dergleichen miteinander und versuchen dieses tote Material durch Konsumation zum Leben zu erwecken. Was aber nicht gelingt.» Er hat diese Psychoanalytikerin dann gefragt: «Wie kommen wir da wieder raus?» Sie antwortete: «Es ist ganz einfach: Wir müssen uns wieder als echte Menschen begegnen.»

Die Eltern reden nicht viel

Während er das erklärt, haben wir die Strasse überquert. Giuseppe Gracia mustert die Klingelschilder, sagt: «Wie damals. Fast nur Ausländer.» Erzählt, wie sie im dunklen Kellerkorridor damals die nach dem Lichtschalter tastenden Bewohner erschreckt haben, und steuert um das Haus herum, in den von Garagentoren gesäumten Hinterhof. «Hier haben wir Fussball gespielt, in meiner Erinnerung ist alles grösser.»

Wir gehen hinauf zur Quartierstrasse, zum Kinderspielplatz, während er kurz von seinen Eltern erzählt. Kurz deshalb, weil er nicht viel weiss und «immer nur ausweichende Auskünfte bekommen» hat. Sowohl der Vater, ein Sizilianer, der als Maurer in die Schweiz kam, wie seine spanische Mutter, die hier als Putzfrau arbeitete, haben nie viel geredet. Gracia sagt:

«Von andern Secondos weiss ich, dass diese Zurückhaltung in der Generation meiner Eltern weit verbreitet war.»

Gegenwärtig arbeitet Giuseppe Gracia als Journalist, Autor und Kommunikationsberater. Bild: Marius Eckert

So erfährt der Sohn denn erst 1986 beim frühen Tod des Vaters mit 52, dass seine Eltern gar nicht verheiratet waren. Was für die Familie einschneidende Folgen hat, denn es ist keine soziale Absicherung da. Auch der knapp 20-jährige Sohn muss jetzt nach der Verkäuferlehre mehr arbeiten, während er aber weiter seiner grossen Leidenschaft frönt: dem Schreiben. «Ich habe das schon immer getan, habe Geschichten erfunden, viel gelesen und dabei auch geschaut, wie andere es machen – etwa Stephen King, der über eine phänomenale Erzähltechnik verfügt.»

«Er scheut auch keinen Shitstorm»

In zäher Kleinarbeit, aber auch grosser Kreativität entsteht nun, parallel zum intensiven Brotberuf des Kommunikationsberaters, ein ungewöhnlich reiches schriftstellerisches wie journalistisches Werk. In ihm blickt er – etwa im beklemmenden «Kippzustand» von 2002 – auf jene harte Welt entwurzelter Gastarbeiter, deren schmerzhaftes Echo auch im neuesten Roman, «Schwarzer Winter» (2023), noch zu spüren ist.

Da hat Giuseppe Gracia allerdings schon längst die Katastrophen der Gegenwart ins Visier genommen. Hat 2017 in «Der Abschied» einen islamistischen Terroranschlag zum Schauplatz eines Albtraums gewählt. Hat 2021 in «Glorias Finale» die Schattenseiten des Showgeschäfts ausgeleuchtet und im selben Jahr mit «Der Tod ist ein Kommunist» die Coronapandemie zur satirischen Actionkomödie verfremdet.

Nicht zu vergessen zwei Sachbücher, in denen er sich in «Das therapeutische Kalifat» (2018) gegen eine moderne Meinungsdiktatur im Namen des Fortschritts wendet und in «Die Utopia Methode» (2022) gegen die verbreitete Geringschätzung unserer jüdisch-christlichen Wurzeln.

Giuseppe Gracia sei sowohl ein exzellenter Sachbuchautor wie ein grossartiger Entwerfer von Romanen, sagt Dominik Klenk, sein Verleger im Basler Fontis-Verlag. «Oft spürt er in seinen Büchern sehr früh, was auf uns als Gesellschaft zukommt, im neuesten Roman ‹Schwarzer Winter› zum Beispiel die Gefahr, dass aus der ökologischen eine terroristische Bewegung werden könnte. Er schafft es, sich in ganz unterschiedliche Figuren hineinzuversetzen. Und: Er hat keine Angst, für seine Position einzustehen, ist ein glühender Liberaler und scheut auch keinen Shitstorm.»

Die linken Freunde verzeihen das nicht

Hart auf die Probe gestellt wird diese Widerstandskraft nicht zuletzt in den Jahren, die Giuseppe Gracia zwischen 2011 und 2019 als Sprecher des konservativen Bischofs von Chur wird – eine Aufgabe, die er «ganz professionell» erledigt, die ihm aber betrübliche Einsichten hinterlässt. «Ich habe geglaubt, die Menschen wie die Medien könnten unterscheiden zwischen mir und meiner Rolle als Sprecher – und sehe mich getäuscht. Auch meine linken Freunde von einst verzeihen mir diesen Job nicht.»

Als Linker aber sieht Giuseppe Gracia sich weiterhin. Zumal sein ursprünglicher Marxismus und die Idee des Christentums durchaus ihre Berührungsflächen aufweisen – nur dass der Marxismus Gerechtigkeit bereits im Diesseits, das Christentum aber erst im Jenseits verspricht.

Was aber beide auch noch verbindet: Dass mit dem Scheitern des menschenverachtenden sowjetischen Experiments nicht nur der Marxismus seinen jungfräulichen Glanz eingebüsst hat. Sondern dass auch das Christentum als «etwas Überholtes, Patriarchal-Repressives und Diskriminierendes» gesehen wird. Dabei hat es, aus der Vorstellung heraus, dass der Mensch Gottes Ebenbild ist, Werte hervorgebracht, die uns westlichen Menschen heute selbstverständlich sind. Giuseppe Gracia sagt kurz und knapp:

«Ohne Christentum keine Menschenrechte.»

Anfang März stellte Giuseppe Gracia (2. v. r.) sein neues Buch «Schwarzer Winter» in der Buchhandlung Lüthy in St.Gallen vor. Und diskutierte zusammen mit Franziska Ryser, Nationalrätin der Grünen, und Ralph Hurni, Kommandant Stadtpolizei. Bild: Michel Canonica

«Das Problem ist das Personal»

Allerdings sagt er auch: «Das Problem ist nicht die Idee, das Problem ist das Personal.» Jenes Personal, auf das er als Bischofssprecher einen ziemlich intensiven Blick hat werfen können und das er 2020 in «Der letzte Feind» an einem fiktiven Dritten Vatikanischen Konzil gegeneinander antreten lässt.

Vergeblich macht Papst Pius XIII. da den versammelten Kirchenoberen klar, dass eine von ihrer Geschichte und von verkalkten Strukturen blockierte Kirche schon längst jene spirituellen Bedürfnisse der Menschen aus den Augen verloren hat, um die es ihr eigentlich gehen müsste. Und als er nach einem Attentat im Spitalbett erwacht, ist ihm, «als hätte sich das geistige Zimmer geleert, in dem Gott sonst auf ihn wartet».

In der Vorbereitung seines Buchs hat Giuseppe Gracia die Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils studiert und dabei eine Kirche entdeckt, die es noch gar nicht gibt. Sie ist nicht mehr jene weltumspannende Monarchie, als die sich der Katholizismus gerne inszeniert. Sondern eine Institution, die sich zurücknimmt und sich auch von staatlichen Strukturen löst. Die darauf verzichtet, dem Menschen zu allem und jedem Vorschriften zu machen, und sich in aller Bescheidenheit darauf konzentriert, auf seine Sinnbedürfnisse zu antworten – wie das, auf seine Weise, zum Beispiel der Dalai Lama tut.

Worum es dabei geht, das hat Giuseppe Gracia von einem klugen Rabbi gehört. «Er hat gesagt: Menschen bringen sich nicht deshalb um, weil ihnen das Leben zu schwer wird, sondern weil sie das Gefühl haben, nicht mehr gebraucht zu werden. Der Sinn des Lebens aber liegt für den Rabbi darin, dass du gebraucht wirst – du, niemand anders. Gott braucht dich, die Welt braucht dich. Das ist Religion – und alles andere ist Fussnote.»


Quelle: https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/ressort-ostschweiz/portraet-sprecher-eines-bischofs-verkaeufer-journalist-schriftsteller-giuseppe-gracia-war-und-ist-vieles-nun-nimmt-er-es-mit-dem-zeitgeist-auf-ld.2433946

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