Glaube und Denken: Wissenschaft und Religion sind keine Gegenspieler, auch wenn religiöse und antireligiöse Fundamentalisten das so sehen

Christliche Fundamentalisten glauben, die Naturwissenschaft theologisch widerlegen zu können. Damit erliegen sie dem gleichen Irrtum wie Freidenker, die Religion für obsolet erklären.

Giuseppe Gracia, Nzz.ch, 07.11.2023

Von Gott geschaffen oder aus der Natur entstanden? Wissenschaft und Religion stellen die gleichen Fragen an die Welt, aber sie stellen sie verschieden – und kommen deshalb auf verschiedene Antworten. (Heritage Images / Hulton Archive / Getty)

Totalitaristisches Denken zeichnet sich dadurch aus, dass es sich auf das Ganze der Wirklichkeit bezieht und absolute Aussagen auch in Bereichen macht, in denen nur vorläufige Aussagen über Teilaspekte der Wirklichkeit möglich sind. Im Bereich der Naturwissenschaft und der empirischen Forschung kann das Absolute kein Gegenstand der Erkenntnis sein. Jede wissenschaftliche These ist prinzipiell widerlegbar.

Demgegenüber können sich Glaubensaussagen auf das Ganze der Wirklichkeit, auf Sinn und Ursprung des Daseins richten, ohne fundamentalistisch zu sein, denn es handelt sich um persönliche Überzeugungen ohne Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Theologische Aussagen haben keine empirisch-wissenschaftliche Beweiskraft. Theologen arbeiten zwar systematisch-akademisch, mit geisteswissenschaftlichen Methoden wie der Philosophie oder der Geschichtsschreibung, doch ihr Gegenstand ist Gott, und dieser ist «keine naturwissenschaftliche Formel», wie der katholische Theologe Karl Rahner gesagt hat.

Es ist wichtig, diese Unterscheidungen zu machen. Theologie und Naturwissenschaft finden auf verschiedenen intellektuellen Stockwerken statt. Sind religiöse oder antireligiöse Fundamentalisten nicht fähig oder willens, das zu sehen, wird Glaube zum Irrationalismus, und Wissenschaft wird zur antireligiösen Ideologie, zur rational getarnten Quasireligion. Das ist mehr als nur falsches Denken, es führt zu Intoleranz, zur Verengung des geistigen Lebens. Am Ende liegen religiöse und antireligiöse Eiferer im gleichen Krankenhaus, wenn auch wiederum auf verschiedenen Stockwerken.

Eine weltoffene Gesellschaft lebt vom Bewusstsein, dass Vernunft und Glaube ihren je eigenen, sinnerfüllten Zugang zur Wirklichkeit bieten. Die Wissenschaft ist ein Werkzeug, mit dem Erkenntnisse gesammelt, Wissen generiert, Forschung betrieben wird, aber sie ist keine Weltanschauung. Umgekehrt ist die Religion eine Weltanschauung, jedoch kein Werkzeug wissenschaftlicher Erkenntnis.

Das richtige Leben

Der Schweizer Philosoph Michael Rüegg plädiert in seinem Buch «Krise der Freiheit» (2016) für ein gelassenes Verhältnis zwischen Wissenschaft, Religion und Staat. Wissenschaft und Politik sind für ihn Werkzeuge der Erkenntnis und der Gestaltung des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Als solche sind sie fruchtbar und gesund, solange sie nicht zur Weltanschauung überhöht werden, solange sie nicht das richtige Leben und die richtige Moral für alle Menschen definieren wollen.

Eine Religion auf der anderen Seite ist dann gesund, wenn sie die Wissenschaft nicht konkurrenziert und ihr Verhältnis zur politischen Macht klärt, wenn sie die Freiheit des anderen toleriert. Dann darf sie absolute Wahrheitsansprüche haben, jedoch keinen politischen Geltungsanspruch.

Umgekehrt bedeutet das auch, dass Wissenschaft und Politik sich nicht zu Konkurrenten der klassischen Religionen aufschwingen dürfen, wie sich das etwa die Giordano-Bruno-Stiftung wünscht, der Evolutionäre Humanismus oder der Effektive Altruismus. Das sind Bewegungen, die Judentum und Christentum abschaffen wollen. Damit sind sie ähnlich vormodern wie jene, die ihre Religion gewaltsam verbreiten: Beide Seiten betrachten ihre persönliche Weltanschauung als Massstab für alle.

So lässt sich keine liberale Gesellschaft erhalten. Dies geht nur mit der Verteidigung der Religionsfreiheit, der Wissenschaftsfreiheit und des säkularen Rechtsstaates als Grundbausteine der Moderne. Grundbausteine, die nicht als unvereinbar angesehen werden sollten, sondern als gegenseitige Bereicherung und Begrenzung. Ohne die Freiheit, seinen Glauben und seine Weltanschauung frei zu wählen, kann keine Demokratie überleben. Und ein demokratisch-freiheitlicher Staat darf das Böckenförde-Diktum nicht vergessen, wonach er von Voraussetzungen lebt, die er selber nicht hervorbringen kann.

Humanitäres Hochdruckgebiet

Zu diesen Voraussetzungen gehört wesentlich das Christentum, auch wenn das heute viele nicht mehr so sehen. Im Gegenteil dürfte die Meinung weit verbreitet sein, dass die Freiheitsgeschichte des Westens nicht dank dem Christentum entstanden ist, sondern aus dem Widerstand gegen das Christentum. Die Menschenrechte gelten als Folge einer allgemeinen Evolution der menschlichen Vernunft. Einer Evolution, die nach der Überwindung der Religion von Natur aus zu einer besseren Gesellschaft geführt habe.

Ein bisschen so, wie sich das Wetter naturhaften Prozessen verdankt, ohne das Zutun eines Wettergottes. Nach dieser Logik haben uns die französische und die deutsche Aufklärung gutes Wetter gebracht. Eine Art ausgedehntes, humanistisches Hochdruckgebiet, ausgelöst von den Idealen der Aufklärung – gewissermassen mit naturwissenschaftlicher Notwendigkeit.

Die Ideale der Aufklärung haben sich jedoch nicht aus der Natur oder aus sich selbst entwickelt, sondern aus dem Judentum und dem Christentum. Die Menschenrechte wurzeln in der biblischen Gottesebenbildlichkeit des Menschen. Dass jeder Mensch die gleiche Würde besitzt, König wie Bettler, Bürger wie Sklave, Frau wie Mann, Erwachsener wie Baby im Mutterbauch – diese Überzeugung wäre undenkbar geblieben ohne die Offenbarung des biblischen Gottes.

Sie war undenkbar im alten Orient, sie war undenkbar in der griechischen wie in der römischen Antike. Sie war und ist bis heute undenkbar in der gesamten chinesischen Geschichte sowie in der islamischen Welt. Das ist kein Zufall, und es wäre wichtig, in diesem Zusammenhang mehr Aufklärung zu betreiben über die Wurzeln unserer Freiheit.

Die grossen Fragen

Zu dieser Aufklärung gehört die für den Westen charakteristische, komplexe Beziehung zwischen Vernunft und Glauben, Wissenschaft und Religion. Es ist keine Liebesbeziehung, wie die Geschichte lehrt, aber eine Beziehung, die unsere Zivilisation immer wieder neu befruchtet und vorangebracht hat.

Mit den Worten von Papst Benedikt XVI.: «Ich bin überzeugt, dass ein ständiger Dialog und eine Zusammenarbeit zwischen der Welt der Wissenschaft und der Welt des Glaubens notwendig sind, um eine Kultur des Respekts aufzubauen im Hinblick auf die Menschenwürde, die Rechte des Menschen und die nachhaltige Entwicklung unseres Planeten.»

Ein gelassenes Verhältnis zwischen Religion und moderner Gesellschaft ist also auch deshalb wichtig, weil wir das Zusammenspiel zwischen Vernunft und Glauben gerade in polarisierten Zeiten dringend brauchen. Sonst verlassen die grossen Fragen der Menschheit nach Frieden, Sinn und Wahrheit den Bereich der Vernunft und werden dem Irrationalen, dem Mythos und der Gleichgültigkeit überlassen. Zum Schaden nicht nur der westlichen Kultur, sondern der Menschheit überhaupt.


Giuseppe Gracia ist Schriftsteller und Kommunikationsberater.

Quelle: https://www.nzz.ch/feuilleton/religion-glaube-ist-kein-gegner-der-wissenschaft-ld.1763310

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